Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
sehr wohl nach Hause könnte, in die alte Heimat, aber ich käme dort nicht mehr als derselbe an. Ich selbst wäre nicht mehr der Alte. Ich würde niemanden mehr erkennen, ebenso wie andere mich nicht mehr erkennen würden.« Er wandte sich ab, ließ den Blick über die Stadt schweifen und streichelte sein Huhn, kicherte. In der Ferne knallte ein einzelner Schuss. Hufschlag, der Schrei einer Frau, der in hysterisches Gekicher überging. »Ein großes gieriges Herz!«, sprach er, und ging dann weiter, um darin zu verschwinden. Unten am Ufer hatte sich der Mann mit der Peitsche von seinem Pferd entfernt und starrte auf die Bucht mit ihren zahllosen Masten. Den Hut hatte er abgenommen. Er war unschlüssig, was er jetzt tun sollte, und ich beneidete ihn nicht.
Im Hotel klopften wir an Morris’ Zimmertür. Keine Antwort. Charlie öffnete die Tür mit einem verbogenen Nagel, und wir traten ein. Direkt neben der Tür stießen wir auf allerlei Toilettenartikel, Parfums und Pomaden. Abgesehen davon keine Spur von ihm, weder gab es Kleidung noch weiteres Gepäck. Das Bett war gemacht, das Fenster zu. Man hatte den Eindruck, Morris sei schon vor Tagen ausgezogen. Seine Abwesenheit kam Charlie und mir verdächtig vor. Zwar hatten wir uns verspätet, doch bestand die klare Anweisung, auf uns zu warten, komme, was wolle. Es entsprach auch nicht seiner Art, solche Absprachen nicht einzuhalten. Ich schlug vor, an der Rezeption nachzufragen, ob er uns eine Nachricht hinterlassen hatte, und Charlie hielt das ebenfalls für eine gute Idee. Wir wollten das Zimmer gerade verlassen, da fiel mir der große schwarze Trichter auf, der neben dem Bett aus der Wand ragte. In dem Trichter hing ein kleines Glöckchen und darunter stand auf einem Schild: ZIMMERSERVICE: ERST GLOCKE BETÄTIGEN, DANN SPRECHEN . Ich tat genau das, und der Glockenton hallte durchs Zimmer. Charlie erschrak und fuhr herum: »Was zum Teufel machst du da?«
»Ich habe schon von diesem System gehört, aber bisher gab es so etwas nur in den Hotels an der Ostküste.«
»Welches System?«
»Wart’s ab.« Es verging ein Moment, dann meldete sich, winzig klein und weit weg, eine Frauenstimme aus dem Bauch des Hotels.
»Hallo? Mr. Morris?«
Charlie war wie elektrisiert. »Wo kommt das her? Aus der Wand? Ist sie in der Wand?«
»Hallo?«, wiederholte die Stimme. »Sie wünschen, Mr. Morris?«
»Jetzt sag schon etwas«, sagte Charlie. Aber ich traute mich nicht und ließ ihm gern den Vortritt. Von hinten rief er: »Hallo? Können Sie mich hören?«
»Ich höre Sie nur schwach. Bitte sprechen Sie direkt in die Sprechmuschel.«
Charlie gefiel das, und er trat vor diesen Apparat und drückte seinen Mund auf den Trichter. »So besser?«
»Viel besser«, sagte die Stimme. »Mr. Morris, was kann ich für Sie tun? Wir sind übrigens froh, dass Sie wohlbehalten wieder da sind. Wir haben uns Sorgen gemacht, als Sie mit diesem kleinen Bärtigen weggingen.« Charlie und ich sahen uns an. Charlie sprach wieder in den Trichter. »Ma’am, hier spricht nicht Morris. Wir sind aus Oregon und nur auf Besuch hier. Mr. Morris und ich sind Kollegen, wir arbeiten für dieselbe Firma.«
Die Stimme war eine Weile weg. »Und wo ist Mr. … Morris?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wir sind gerade erst angekommen«, rief ich, weil ich ebenfalls etwas sagen wollte.
»Wer war das?«, fragte die Stimme.
»Das ist mein Bruder«, sagte Charlie.
»Das heißt, jetzt sind Sie schon zu zweit?«
»Wir waren schon immer zu zweit«, sagte ich. »Seit dem Tag meiner Geburt sind wir zu zweit.« Aber weder Charlie noch die Stimme verstanden den Witz, und es war, als hätte ich kein Wort gesagt. Die Stimme wurde zickig: »Wer hat Ihnen erlaubt, das Zimmer von Mr. Morris zu betreten?«
»Die Tür war nicht abgeschlossen«, sagte Charlie.
»Und wenn schon. Sie können nicht einfach in die Zimmer unserer Gäste gehen und den Sprechapparat benutzen.«
»Ma’am, dafür entschuldigen wir uns in aller Form. Wir wollten eigentlich schon ein paar Tage früher hier sein, wurden aber aufgehalten. Daher suchten wir Mr. Morris sofort nach unserer Ankunft auf und mussten leider auf Förmlichkeiten verzichten.«
»Er hat mit keinem Wort erwähnt, dass er Besuch erwartet.«
»Natürlich nicht, das macht er nie.«
»Hmmm«, sagte die Stimme.
Dann war wieder Charlie dran. »Sie sagen, er hat mit einem Bärtigen das Hotel verlassen. Hieß dieser Mann zufällig Warm, Hermann Warm?«
»Ich habe den Herrn nicht nach
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