Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)
schuldbewusste Miene indes tat es sogleich und gab alles zu. Ja, er war mir durchaus gefolgt, und ich war nur froh, dass ich der Herausforderung so mutig entgegengetreten war. Er fragte mich, ob er sich bei mir einen Dollar ausborgen könne, was ich ablehnte. Daraufhin lüpfte er seinen verstaubten, abgewetzten Zylinder und empfahl sich, die Daumen weltmännisch in die Weste gehakt und stolz erhobenen Hauptes. Draußen ließ er das Vordach hinter sich und trat hinaus auf die Straße, hinaus in die Sonne, was ihm offenbar unbeschreibliches Vergnügen bereitete, denn er streckte dabei beide Arme aus, als wollte er in ihren Strahlen baden. Ein Pferdefuhrwerk mit Unrat kam vorbei, und da es hügelan, also langsam fuhr, hüpfte er auf die Ladefläche, doch so elegant und behände, dass der Kutscher nichts merkte. Ein gelungener Abgang, wie ich gern zugebe, auch wenn Warm aus der Nähe noch zerrütteter aussah, als ich beim ersten Mal den Eindruck gehabt hatte. Wofür allerdings nicht allein seine Trunksucht verantwortlich sein dürfte, sondern seine allgemeine Verwahrlosung. Er stinkt zum Beispiel nicht weniger als kadaverös, und ich wäre nicht überrascht, wenn es mit ihm zu Ende ginge, noch ehe die beiden aus Oregon City hier eintreffen.
★ Die Merkwürdigkeiten nehmen kein Ende. Heute Morgen hielt sich der Warm schon wieder in der Hotelhalle auf. Ich entdeckte ihn früher als er mich, obwohl er stark an seinem Äußeren gearbeitet hatte. Seine Kleidung war geflickt und gereinigt, er selbst wirkte wie frisch gebadet. Der Bart war gekämmt, das Gesicht geschrubbt, kurz, ein neuer Mensch und nicht mehr der Schmutzfink, der sich vierundzwanzig Stunden zuvor an mich herangemacht hatte. Endlich sah er mich (am unteren Treppenabsatz) und kam mir entgegen, um mir die Hand zu reichen und sich für sein früheres Verhalten zu entschuldigen. Und er war ehrlich berührt, als ich seine Entschuldigung annahm, was wiederum mich rührte oder mir zumindest zu denken gab, denn diese Seite kannte ich an ihm gar nicht. Bis dahin dachte ich, ich weiß alles über ihn – welche Täuschung! Noch größer war mein Erstaunen, als er mich daraufhin zum Essen einlud. Ich hatte zwar keinen Hunger, gleichwohl nahm ich an. Ich war neugierig, welcher Fügung die Metamorphose dieser Vogelscheuche zu verdanken war.
Wir begaben uns in eine Lokalität seiner Wahl, ein windschiefes, wenig einladendes Rattenloch mit Namen The Black Skull, wo der Warm vom Wirt, einem zahnlosen, ranzigen Kerl mit schwarz-rot karierter Augenklappe, überschwänglich begrüßt wurde. Dieser dubiose Mensch fragte den Warm, wie es um sein »Projekt« stehe, und Warm antwortete mit einem einzigen Wort: »Glänzend«. Was für mich nun überhaupt keinen Sinn ergab, aber den Wirt sehr zu freuen schien. Er führte uns zu einem Tisch mit Vorhang und brachte uns zwei Teller mit fadem Ragout und Brot, von dem schon das würzige Aroma des Schimmels ausging. Es gab keine Rechnung. Als ich den Warm nach seiner Verbindung zu dem Wirt befragte, senkte er die Stimme und meinte, es sei zwar noch nicht spruchreif, doch ein Abbruch ihrer Geschäftspartnerschaft sei so gut wie sicher.
Nach dem Essen räumte der Wirt ab und öffnete den Vorhang wieder. Warms entspannte Miene erstarrte in Förmlichkeit, und er brauchte eine halbe Minute, um seine Gedanken zu ordnen. Dann sah er mir ins Gesicht und sagte: »Es ist wahr, ich habe Sie beobachtet. Zunächst mit dem Ziel, Ihre Schwachpunkte ausfindig zu machen. Und ich sage Ihnen noch etwas: Anfangs hatte ich sogar vor, Sie umzubringen oder umbringen zu lassen.« Als ich ihn nach dem Grund fragte, sagte er: »Ich wusste gleich, dass Sie zu den Männern des Kommodore gehören.« – »Kommodore?«, fragte ich. »Welcher Kommodore?« Aber er schüttelte über meinen amateurhaften Versuch nur den Kopf und fuhr ungerührt fort: »Aber, Mr. Morris, meine Meinung über Sie hat sich bald geändert, und ich sage Ihnen auch, warum. Weil Sie eine ehrliche Haut sind. Normalerweise lächeln die Menschen nur kurz, wenn sie auf der Straße jemanden grüßen. Ist derjenige, der gegrüßt wurde, nicht mehr im Blickfeld, ist es auch mit dem Lächeln vorbei, es ist insofern ein falsches Lächeln, und der Betreffende ist ein Lügner, verstehen Sie?« – »Aber das macht doch jeder so«, wandte ich ein. »Es ist eine höfliche Geste, mehr nicht.« – »Nein, es macht überhaupt nicht jeder«, sagte Warm. »Sie zum Beispiel machen es nicht. Ihr Lächeln bleibt,
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