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Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Die Sisters Brothers: Roman (German Edition)

Titel: Die Sisters Brothers: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick deWitt
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auch wenn Ihr Gegenüber längst weg ist. Das bedeutet, Sie sind ein umgänglicher Mensch. Als ich das immer wieder bei Ihnen sah, dachte ich: So einen bräuchte ich an meiner Seite, dann wäre die Verwirklichung meiner Idee keine Frage mehr. Ich wollte Sie schon gestern einweihen, aber es ging gründlich schief, wie Sie sich bestimmt erinnern. Offen gestanden, ich fürchtete mich vor der Begegnung mit Ihnen und dachte, nach einem Drink hätte ich vielleicht mehr Mut dazu.« Er senkte den Kopf, wohl weil er die Szene noch genau vor Augen hatte. »Heute Morgen, als ich in meiner armseligen Bleibe erwachte, habe ich mich immer noch darüber geschämt. Nun ist solche Scham bei mir nichts Ungewöhnliches, doch diesmal setzte sie mir besonders zu. So sehr, wie ich es noch nie erlebt habe und nie mehr erleben will. Es war, als sei ich ganz unten in der Grube des Selbsthasses angekommen. Es gibt Menschen, die nennen so etwas eine Offenbarung. Egal, ob Offenbarung oder nicht, von da an musste es anders werden. Heute Morgen schwor ich mir, mein Leben zu ändern. Ich musste mich waschen. Aber nicht nur meinen Körper, ich musste auch meine Seele reinwaschen. Kurz, ich musste meine Geheimnisse mit Ihnen teilen, da ich weiß, dass Sie ein guter Mensch sind und weil ich einen guten Menschen mehr als alles andere auf der Welt brauche, gerade jetzt.«
    Noch ehe ich auf diese leidenschaftliche Rede antworten konnte, zog der Warm mehrere zerknitterte Blatt Papier aus der Tasche und legte sie auf den Tisch, verbunden mit der Bitte, sie zu lesen, was ich tat. Es handelte sich um lange Zahlenkolonnen und wissenschaftliche Gleichungen, aus denen ich nicht schlau wurde, was ich offen zugab. »Tut mir leid«, sagte ich, »aber dies ist für mich wie ein Buch mit sieben Siegeln.« Darauf der Warm: »Es handelt sich um die theoretische Grundlage einer phänomenalen Entdeckung.« – »Welcher Entdeckung?« – »Vielleicht die wissenschaftliche Sensation des Jahrhunderts.« – »Was für eine Sensation?« Warm raffte seine Papiere zusammen und steckte sie wieder in die Jacke, woraus sie dann unordentlich hervorlugten. Er kicherte, als sei ich längst Mitwisser und über alles informiert. »Wünschen Sie eine Demonstration?«, fragte er. »Nein«, antwortete ich. – »Egal, Sie kriegen trotzdem eine.« Mit einem Blick auf seine Taschenuhr erhob er sich. »Ich muss jetzt gehen, aber ich komme morgen früh zu Ihnen ins Hotel. Dann zeige ich Ihnen, was ich meine, und hätte danach gern Ihre Meinung dazu – und natürlich Ihre Entscheidung.« – »Entscheidung in Bezug worauf?«, fragte ich, denn ich tappte völlig im Dunkeln. Er hingegen schüttelte den Kopf und sagte: »Das besprechen wir morgen. Passt Ihnen der Termin, was sagt Ihr Kalender?« Ich sagte diesem Witzbold, mein Terminkalender habe keine Einwände, worauf er mir kurz die Hand gab und Gott weiß wohin enteilte, wo er dringend gebraucht wurde. Ich sah ihm nach. Lachend schob er sich durch die dicht gepackten Leute im Lokal und war kurz darauf verschwunden.
    ★ Ich war noch gar nicht richtig wach, da klopfte der Warm an meine Tür. Sein äußeres Erscheinungsbild hatte weitere Verbesserungen erfahren, zum Beispiel trug er einen neuen Zylinder. Als ich ihn darauf ansprach, nahm er den Hut vom Kopf, um mir dessen Vorzüge im Detail zu schildern, als da wären die Innennähte, die Weichheit des Schweißbands und überhaupt die, wie er es nannte, herausragende Güte in Verarbeitung und Anmutung. Ich fragte, was er mit seinem alten Hut gemacht habe, doch er antwortete nur ausweichend. Erst auf wiederholte Nachfrage bekannte er, er habe den Hut über eine Möwe gestülpt, welche arglos in der Sonne saß. Da die Möwe ihrem schwarzen Gefängnis nicht entfliegen konnte, habe er, wiewohl nicht ohne schlechtes Gewissen, zusehen können, wie sich sein Hut quasi von selbst von ihm entfernte, bis sich, an der nächsten Ecke, seine Spur verlor. Während er mir diese Geschichte erzählte, entdeckte ich die zugedeckte Kiste zu seinen Füßen. Ich fragte, was es mit der Kiste auf sich habe, und er hob den Zeigefinger und sagte: »Ah!«
    Dies also war die Einleitung zu seiner geheimnisvollen Vorführung, und bald befand sich der gesamte Inhalt der Kiste auf dem kleinen Esstisch. Nun, was sah ich? Ich sah einen flachen Kasten, zirka drei Fuß lang und zwei Fuß breit, einen Leinensack mit frischer feuchter Erde, einen roten Samtbeutel und eine aufrecht stehende Feldflasche aus Blech. Da es nicht

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