Die Skelettbande
das
Angebot dieser Firma für Personenschutz ausgeschlagen?, dachte Henry Hedonis.
Aber für Selbstvorwürfe war
jetzt keine Zeit. Er war ein psychologisch geschulter Mann, der Menschen lenken
konnte. Er beherrschte die unterschiedlichsten Methoden zur Gesprächsführung.
Warum sollte es ihm nicht gelingen, diese Gangster einzulullen?, redete er sich
ein.
Henry Hedonis räusperte sich
und sagte mit seiner ruhigen, eindringlichen Stimme: »Ich bin mir sicher, wir
können eine für beide Seiten zufriedenstellende Lösung finden.«
Es kam keine Antwort. Nur das
Zirpen der Grillen und das Krächzen eines Raben waren zu hören.
Ein leichter Wind strich durch
sein Haar. Er saß im Freien, mit Stricken an einen Stuhl gefesselt. Die großen
Scheinwerfer, die im Kreis um ihn herum standen, blendeten derart, dass er
nichts sehen konnte.
Egal in welche Richtung er
seinen Kopf drehte, er sah nur das grelle Weiß der Fünfhundert-Watt-Lampen.
»Reden Sie mit mir!«, brüllte
er ins Nichts. Er erschrak fast zu Tode als daraufhin ein Scheinwerfer nach dem
anderen ausging. In dem plötzlichen Dunkel waren sechs Gestalten zu erkennen,
die neongelb leuchteten.
Sein Herz begann schneller zu
schlagen. Er hatte von diesen Gestalten in der Zeitung gelesen, aber sie so vor
sich stehen zu sehen, machte ihm höllisch Angst.
Ein Skelett beugte sich zu ihm
herunter und kam ganz nahe an sein Gesicht heran. Er konnte sehen, dass der
Totenkopf mit Neonfarbe auf das schwarz grundierte Gesicht aufgemalt war, aber
das minderte nicht im Geringsten die grausige Wirkung auf ihn. »Für Gespräche
ist es zu spät«, sagte der Totenschädel mit verstellter Stimme.
»Für Gespräche ist es niemals
zu spät. Ich...«, stotterte Henry Hedonis.
»Halt dein Maul!«, unterbrach
in das Skelett brutal. »Du bist hier, damit du das bekommst, was du verdient
hast!«
Hedonis verstand nicht. »Was
meinen Sie?«
»Was man anderen antut, fällt
irgendwann einmal auf einen zurück. Du hast ein Leben zerstört und jetzt wird
dein Leben zerstört«, zischte der Totenschädel.
»Oh, mein Gott! Es ging gar
nicht um Geld, es ging um Rache!« Panik stieg in Henry Hedonis hoch. Er hatte
gedacht, dass sie ihn wegen seiner Kohle entführt hätten. Das wäre einfach
gewesen. Er hatte genug Geld. Man hätte einen Deal aushandeln können und schon
bald wäre er wieder ein freier Mann gewesen. Aber offenbar ging es um etwas
anderes — um ein emotionales Motiv, das er nicht kannte.
Hedonis wühlte in seinen
Erinnerungen. Wie in einer Zeitmaschine flogen seine Gedanken zurück.
Er versuchte, sich an
Situationen in seinem Leben zu entsinnen, in denen etwas Schreckliches
geschehen war. Aber es fiel ihm partout nichts ein. Ihm war klar, dass man
schmerzhafte Dinge verdrängte, sie in die unterste Schublade des Bewusstseins
packte, weil man sich nicht mehr daran erinnern wollte. Er brauchte einen
Hinweis.
»Helfen Sie mir! Helfen Sie
mir, mich zu erinnern!«, stammelte er und vor Aufregung bebten seine Lippen.
»Ich werde deinem Gedächtnis
auf die Sprünge helfen! Ihr Name war Annika!«
»Annika!?« Hedonis begann
fieberhaft zu überlegen. Er hatte in seiner beruflichen Karriere schon so viele
Namen gehört. Und es fiel ihm auch schwer, sich Namen zu merken. Wer sollte
diese Annika sein? Es dauerte eine Weile, doch dann stieß er in einer
Abstellkammer seines Gedächtnisses auf eine Erinnerung. Eine sehr alte, aber
schreckliche Erinnerung. Und die überkam ihn wie ein plötzliches Fieber, das mit
einem Schüttelfrost begann und die Körpertemperatur hochschnellen ließ. Annika!
Natürlich. Die kleine Annika. Wie konnte er das vergessen? Man sah ihm an, dass
er Bescheid wusste.
»Ich sehe, du weißt, wer Annika
ist!«, sagte der Totenschädel. Er klang leise, fast zärtlich. In seiner Stimme
lagen Trauer und Schmerz.
Hedonis nickte zögerlich und
senkte schuldbewusst den Kopf. Sein Gesicht war jetzt aschfahl und es sah so
aus, als habe ihn die Erinnerung um Jahre altern lassen. »Ich habe das nicht
gewollt. Wir waren damals noch Kinder!«, schrie er und riss den Kopf zu dem
Anführer der Skelettbande hoch. Speichelfäden hingen an seiner Lippe. In
seinen Augen konnte man lesen, dass er auf Vergebung hoffte.
»Annika war auch noch ein
Kind«, sagte der Totenschädel mit so eisiger Stimme, dass Hedonis schauderte.
Die eben noch so sanfte Stimme war jetzt stahlhart. »Bringt ihn zurück!«,
befahl der Anführer der Skelettbande. »Er weiß nun, weswegen er hier
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