Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
weiterhin zu ernähren. Manche verlassen ihr Zuhause und ziehen mit den wenigen Tieren, die ihnen geblieben sind, in die Berge; viele alte Leute sterben an einem Hitzschlag.
Ismail befragt das Orakel, doch die Zeichen sind schwer zu deuten. Zum Schluss verkündet er, dass auserwählte Mitglieder seines Hofs barfuß und in den ältesten und schmutzigsten Kleidern, die sie finden können, auf die Felder gehen sollen. Abid und ich werden ins ärmste Viertel der Stadt geschickt, um schmutzige Lumpen zu kaufen, verlaust, mit zerfetzten Säumen und Ärmeln, je dreckiger, umso besser. Alte Frauen verkaufen uns die Kleider ihrer Männer, klauben mir mit Fingern, die an Krallen erinnern, die Münzen aus der Hand und schließen die Tür, bevor ich meine Meinung ändern kann. Bald machen Gerüchte die Runde, und wenig später bin ich umringt von Männern, die sich in schmalen Gassen freudig ihrer alten Gewänder entledigen.
Am nächsten Tag stehen wir so angetan in der Morgensonne, die bereits unerbittlich glüht, obwohl sie gerade erst aufgegangen ist. Vor dem ersten Gebet haben wir uns gewaschen, damit wenigstens unsere Körper sauber sind, doch die Kleider auf unserem Rücken sind schmutzig und voller Ungeziefer, die des Sultans am schlimmsten. Er führt uns durch das Bab al-Raïs, wo der Kopf des Wolfs aus leeren weißen Augenhöhlen auf uns herabstarrt. Ich könnte schwören, dass die knochigen Kiefer grinsen, als er sieht, dass sich sein Folterer, Emir Zidan, wie ein flohverseuchter Hund kratzt und darum bettelt, bei seiner Mama zu Hause bleiben zu dürfen. Doch Ismail lässt sich nicht erweichen: Alle königlichen Emire müssen mitkommen, selbst der kleine Momo mit seinen knapp zwei Jahren, den ich den Armen seiner klagenden Mutter entreißen muss. Alys erträgt es nicht, von ihrem Kind getrennt zu sein, nicht einmal für kurze Zeit. Wahrscheinlich hat es mit Zidanas üblem Ränkeschmieden zu tun, bei dem sie Momo fast verloren hätte.
Wir überqueren den Sahat al-Hedim. Die Leute kommen aus den Häusern, um uns zu begaffen – eine zerlumpte Horde, angeführt von einem zerlumpten Mann. Wissen sie überhaupt, dass es ihr Herrscher ist? Vermutlich nicht. Sie haben Ismail nie ohne seine mit goldenem Zaumzeug geschmückten Pferde, die Pfauenfedern schwenkenden jungen Sklaven und die bis an die Zähne bewaffneten bukhari gesehen. Irgendetwas an der Feierlichkeit unserer Pilgerschaft scheint die Zuschauer zu berühren. Einige von ihnen müssen sich der Prozession angeschlossen haben, jedenfalls ist unsere Zahl gewachsen, als wir die Mauern der Zitadelle verlassen und die Hügel jenseits davon erreichen. Wir gehen von Schrein zu Schrein und bringen unsere Gebete dar. Die ganze Zeit bleibt der Himmel heiter, die Sonne brennt auf uns herab. Es gibt weder zu essen noch zu trinken. Für die Kinder ist es hart, doch Momo findet sich stoisch damit ab.
Als wir schließlich zum Palast zurückkehren, ist der Herrscher dermaßen angespannt, dass jeder versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Manche von uns können sich diesen Luxus bedauerlicherweise nicht erlauben. Er stürmt durch den Palast und schreit. Wachen werden zu den unterirdischen Verliesen beordert, um sämtliche Bilder von christlichen Heiligen zu entfernen, die unseren Gebeten im Weg stehen oder Allahs Zorn auf uns lenken könnten. Im Hamam lasse ich versehentlich einen seiner babouches in ein Wasserbecken fallen – für die häufigen Dampfbäder des Herrschers gibt es offenbar immer genügend Wasser –, sodass das makellose zitronengelbe Leder Wasserflecken bekommt. Er hebt ihn auf und drischt damit so heftig auf mich ein, dass sich Striemen auf meinem Rücken und dem Nacken bilden. Ich kann Gott nur danken, dass er nicht mit etwas Schlimmerem bewaffnet war.
Am Abend folge ich ihm zum Harem, wo er eine Frau für die Nacht wählen will. Es gibt einige europäische Gefangene, die Sidi Qasems Leutnants gerade zusammen mit einer Ladung neuer Arbeiter nach Meknès gebracht haben. Er zögert eine Weile vor einer hellhaarigen Russin, macht dann auf dem Absatz kehrt und begibt sich direkt zu den Gemächern des Weißen Schwans.
Vierte Woche, vierter Tag, Safar 1091
El ouez abiad , geborene Alys Swann. Konvertierte englische Gefangene, Mutter von Emir Mohammed ben Ismail.
Am nächsten Tag regnet es.
SECHSUNDZWANZIG
Alys
I ch erinnere mich an die Zeit, als ich noch glaubte, mein Leben hier ertragen zu können, diese Monate vor fast drei Jahren, als ich mit meinem süßen
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