Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
eine. Eine war ja schon schlimm genug, aber zwei bedeuteten, dass sie weinte. Ein Eindruck, den sie um jeden Preis vermeiden wollte.
Mit fest geschlossenen Augen betete Kelly inbrünstig, dass der Mann, der sie hielt, die Tränen nicht bemerkte und ihm auch nicht auffiel, dass ihr bereits unregelmäßiger Atem in ein Schluchzen umschlug, was sie endgültig verraten würde. Kelly hatte zum letzten Mal beim Tod ihrer Eltern geweint, beim Verlust ihres Bürojobs jedoch keine Miene verzogen, obgleich sie auch da den Tränen nah gewesen war. Eine neue Anstellung ließ sich immer finden. Und wenn nicht, gab es andere Lösungen.
Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen, als die Schikanen
begannen, weil es ihren Peinigern eine tiefe Genugtuung bereitet hätte, sie unter den gehässigen anonymen Angriffen zusammenbrechen zu sehen. Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen, als sie bei der Polizei barsch abgefertigt wurde, und sie hatte große Mühe gehabt, nicht zu weinen, als sie die Henkerschlinge an ihrer Verandadecke gefunden hatte. All diese Dinge waren es nicht wert, deswegen auch nur eine einzige Träne zu vergießen, hatte sie sich wieder und wieder gemahnt.
Doch jetzt brach ihre Selbstbeherrschung zusammen. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie biss sich erneut auf die Lippen, dann presste sie sie fest zusammen. Ein Schnieflaut erklang, als sie Atem holte. Die Brust und die Arme des Mannes, der sie hielt, bebten leicht, was ihre Demütigung besiegelte, denn das hieß, dass er gemerkt hatte, was mit ihr los war. Und schlimmer noch – da sie ein hellhäutiger, sommersprossiger Rotschopf war, wurde ihr Gesicht vom Weinen immer fleckig. Kelly war immerhin noch Frau genug, um keinesfalls fleckig und verquollen aussehen zu wollen, wenn sie in den Armen eines attraktiven Mannes lag, auch wenn dieser ihr eindeutig feindlich gesonnen und die ganze Situation alles andere als beruhigend war.
Ihr Wächter verlagerte ihr Gewicht in seinen Armen, dann stöhnte er und murmelte etwas, was sie nicht verstand, aber sein Ton besagte deutlich, was er meinte – »na toll, jetzt heult sie auch noch« oder etwas Ähnliches. Der andere Mann erwiderte etwas, das klang wie »achte einfach nicht darauf« – und dann ertönte ein lautes Krachen.
Kelly riss die Augen auf und begann wie wild zu zappeln, um sich zu befreien und vor dem furchterregenden unerwarteten Geräusch zu flüchten. Der Mann, der sie festhielt, grunzte, fletschte sie Zähne, packte sie fester und presste sie erneut gegen seine Brust, nur diesmal in einem anderen Winkel, sodass ihr Blick auf seinen Freund
fiel, der behutsam Glasscherben vom Boden aufhob. Zwischen den Scherben lagen grüne, trockene Blätter. Offenbar war ein Tiegel oder ein Krug zu Bruch gegangen. Die Bewegungen des am Boden kauernden Mannes wurden von einem großen, breiten Spiegel widergegeben, der ganz in der Nähe stand.
Der Hüne, der sie gepackt hielt, knurrte dem anderen etwas in einem »Beeil dich, oder ich lasse sie fallen«-Ton zu, woraufhin der andere geistesabwesend etwas murmelte, auf das sie sich keinen Reim machen konnte. Aber sie unternahm keinen Versuch mehr, sich loszureißen. Sie war körperlich, geistig und seelisch abgrundtief erschöpft; die Schikanen und Anfeindungen, die sie während der letzten Monate hatte ertragen müssen, hatten sie ausgelaugt, und die unbegreiflichen jüngsten Ereignisse waren endgültig zu viel gewesen. Sie brachte nicht mehr die Kraft auf, sich gegen ihren Widersacher ernsthaft zur Wehr zu setzen.
Wohin hätte sie auch flüchten können. Man gelangte nicht von einer Sekunde zur anderen von seinem Bett in einem lichterloh brennenden Haus in eine mittelalterliche Burgkammer, die sie an die Höhle eines Zauberers erinnerte. Nicht in einer nüchtern und rational denkenden Welt. Nicht in ihrer Welt jedenfalls. Wenigstens waren ihre Tränen versiegt, auch wenn sie ein gelegentliches leises Schniefen nicht unterdrücken konnte und ihr Gesicht nun zweifellos doch verquollen und fleckig war.
Aber warum mache ich mir Gedanken um mein Aussehen, wenn ich Gott weiß wo gelandet bin und diese Männer Gott weiß was mit mir vorhaben?
Der andere Mann hatte inzwischen die Unordnung beseitigt. Mit einer kleinen gläsernen Zange pickte er die wenigen Blätter auf, die nicht mit dem Boden in Berührung gekommen waren, und warf sie in einen großen Keramikbecher, in den er zuvor vor sich hinmurmelnd eine Reihe anderer seltsamer Ingredienzien hineingerieben hatte.
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