Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
schenken. Keine andere Erklärung ergab einen Sinn. Sie hatte sich plötzlich an einem ihr völlig fremden Ort wiedergefunden, die beiden Männer konnten mit einem Mal ihre Sprache sprechen und dann sie die ihre … es war einfach zu viel, was
da auf sie einstürmte, sie konnte es nicht ertragen. Nicht nach alldem, was sie schon durchgemacht hatte.
»Ich …« Weiter kam sie nicht, denn zum zweiten Mal innerhalb weniger als einer Stunde und zum zweiten Mal in ihrem Leben sank Kelly Doyle in eine tiefe Ohnmacht.
»Bei Jinga!«
Saber blieb ein paar Schritte hinter der Tür des Arbeitsraumes stehen, blickte sich um und tadelte seinen Bruder: »Achte auf deine Sprache! Ich will sie zwar nicht hier haben, aber sie ist und bleibt eine Frau!«
»Saber, könntest du bitte zurückkommen und sie noch einmal aufheben?«
Saber fuhr herum, stolzierte zur Tür zurück und beugte sich vor. »Nein«, wehrte er ab, doch dann sah er, warum sein Bruder diese Bitte an ihn gerichtet hatte. Die Frau lag erneut zusammengekrümmt auf dem Steinfußboden. Sein Bruder lehnte an seinem Arbeitstisch. Er wirkte verhärmt, und ein feiner Schweißfilm bedeckte sein Gesicht, wie Saber besorgt feststellte. »Was ist passiert?«
»Sie ist ohnmächtig geworden. Und ich fühle mich auch nicht besonders gut.«
Sabers Ärger verflog augenblicklich. Obwohl Morganen seine Nerven oft gewaltig strapazierte, war er schließlich sein Bruder. »Was ist denn?«
»Ach, nichts Besonderes … nur zwei kräftezehrende Zauber an einem Tag, falls es dir nicht aufgefallen ist. Es war nicht ganz einfach, sie aus diesem so weit entfernten Feuer zu retten.« Morganen rieb sich die Stirn, um die sich ankündigenden Kopfschmerzen zu vertreiben. »Und dann musste ich den Trank für den Vielsprachenzauber brauen … den schwierigsten Sprachzauber, den es gibt.«
Saber entging nicht, wie blass sein Bruder war, aber er wollte in diese Angelegenheit nicht noch tiefer hineingezogen werden, als er es ohnehin schon war. »Was willst du
von mir?«, fragte er barscher als beabsichtigt. »Ich habe wenig Lust, den ganzen Tag hier herumzustehen.«
Morganen stellte den Becher neben sich auf seinen Arbeitstisch. Manchmal brachte sein ältester Bruder ihn fast zur Weißglut. »Heb sie einfach nur auf, trag sie in eine der leer stehenden Gästekammern und leg sie auf das Bett. Und dann sag jemandem, er soll ein Auge auf sie haben. Ich würde ja selbst auf sie achtgeben, aber ich fürchte, ich muss noch ein Weilchen hier sitzen bleiben. Und vergiss nicht, den anderen einzuschärfen, nichts mit ihr anzustellen … das liegt dir ja am meisten.«
Saber warf ihm einen finsteren Blick zu, ging aber zu der Frau hinüber und bückte sich, um sie aufzuheben. Ihre Wimpern flatterten, als er sie auf die Arme nahm, dann regte sie sich nicht mehr. Diesmal musste er sie nicht mit aller Kraft an sich drücken, sie war zu einem willenlosen Bündel erschlafft.
Einem Bündel aus Haut und Knochen , dachte er, als er zwei Treppen hochstieg, die Tür mittels eines Zauberspruchs öffnete und wieder hinter sich schloss und dann über die schützende äußere Mauer, die das Gelände des burgähnlichen Gebäudes umschloss, zu der Rampe hinüberschritt, die zu dem nächstgelegenen Flügel des Donjons, des Hauptturmes der Burg führte. Eines ohne Fleisch auf den Rippen. Halb verhungert.
Er wollte lieber nicht darüber nachdenken, welche Umstände zu ihrem miserablen körperlichen Zustand geführt hatten. Sie hatte Feinde, hatte sein Bruder gesagt. Ihr Heim und ihr Geschäft waren von diesen Feinden in Brand gesteckt worden; absichtlich, während sie sich darin aufgehalten hatte, was auf einen nächtlichen Mordanschlag hindeutete. Unbewusst umfasste er sie etwas fester, während er den Flügel des Donjons entlangeilte, der sich mit einem Nachbarflügel zu einer Länge vereinte, je mehr er sich der Mitte der großen Halle näherte.
Wir mögen ja unser rechtmäßiges Heim und mit ihm das Recht verloren haben, uns als Söhne der Corvis-Blutslinie zu bezeichnen; wir mögen ja nach Nightfall verbannt worden sein … aber wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf. Und unseren Lebensunterhalt bestreiten wir durch Fischen, Jagen, Geflügelzucht und Gemüseanbau, und zusätzlich können wir den einen oder anderen magischen Gegenstand gegen Waren eintauschen, die diejenigen, die uns in dieses Exil geschickt haben, vom Festland mitbringen. All das unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem, was wir
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