Die Söhne der Wölfin
noch nicht einmal geschlafen hatte und die er nach dem Ende dieser Reise wohl nie wiedersehen würde. Er schwieg und beobachtete sie dabei, wie sie Ulsnas Gesang lauschte. Ihr Profil erinnerte ihn an die Gemmen, die er aus Korinth mit sich geführt hatte, weil die Rasna sie angeblich so sehr begehrten. Dann seufzte sie und lehnte sich noch etwas mehr zurück. Er wandte seinen Blick dem Jungen zu. Zweifellos fielen, wenn er sang, Unbeholfenheit und Unsicherheit von Ulsna ab wie die alte Haut einer Schlange, die sich schuppt. Aber er war immer noch zu dünn, zu unscheinbar und vor allem viel zu kindlich, um andere als elterliche Gefühle in einem zu erregen. So vertraut sie mit ihm umging, er konnte es einfach nicht sein, den Ilian gerade gemeint hatte.
»Und wer ist dieser Held?« erkundigte Arion sich schließlich, unfähig, die Frage länger zurückzuhalten.
»Mein Mann«, antwortete Ilian mit der größten Selbstverständlichkeit, und nur die winzige Pause, die sie machte, wie um die Wirkung ihrer Worte abzuwarten, ehe sie fortfuhr, ließ erkennen, daß sie sich bewußt war, etwas Ungewöhnliches gesagt zu haben. »Obwohl unsere Ehe auch ein Handel war.«
Arion hatte sie, seit er sie kannte, aller möglichen Dinge verdächtigt, aber nicht, verheiratet zu sein. So wiederholte er nur, einigermaßen erschüttert: »Dein Mann?«, ehe er sich wieder in den Griff bekam und beiläufig hinzusetzte: »Ich wußte nicht, daß bei den Rasna die Priesterinnen heiraten dürfen.«
»Es gibt vieles, das du über die Rasna nicht weißt.« Allmählich verdichtete sich das Gefühlsgewirr, das sie in ihm erregte, zu echtem Ärger.
»So scheint es. Es war mir gänzlich unbekannt, daß sie ihre Weiber allein über die See schicken und es zulassen, daß sie mit fremden Männern so freimütig wie die Hetären umgehen.«
Auch in Ilians Stimme erkannte er Ärger, der ihren Spott zu einem spitzen Stachel schärfte. »Sie ähneln offenbar den Frauen der Griechen, die mit ihren Männern das gleiche tun.«
Das war so unvernünftig, daß er nichts darauf erwiderte. Er verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Eine Frau - eine anständige Frau - kümmerte, daß ihr Mann sie und ihre Kinder ernährte und seine sonstigen Vergnügungen nicht ins Haus brachte. Was ein Mann sonst tat, ging sie nichts an. Er glaubte nicht, daß seine Frau viele Gedanken darauf verschwendete, was er außer Handel sonst noch getrieben hatte. Aber das ließ sich ganz und gar nicht vergleichen mit einem Barbaren wie Ilians unbekanntem Mann, der es zuließ, daß seine Frau wildfremde Männer in Schenken ansprach, wo sich allerlei Gesindel herumtrieb, und Leben wie Freiheit auf einer Reise über das Meer aufs Spiel setzte. Warum begleitete er sie nicht, oder noch besser, warum unternahm er nicht die Reise an ihrer Stelle und unterbreitete dem Orakel in Delphi sämtliche Fragen, die sie hatte?
Verstimmt wandte er sich von ihr ab und richtete in der Nacht nicht mehr das Wort an sie.
Die Kassiopeia unterbrach ihre Reise zweimal, um neue Vorräte und frisches Wasser an Bord zu nehmen. Beim ersten Mal, als das Schiff die korinthische Apoikia - ein Ausdruck, den ihm Ilian als »Zweigsiedlung« übersetzte - namens Syrakus anlief, machte Ulsna erst gar nicht den Versuch, um die Erlaubnis zu bitten, an Land gehen zu dürfen. Die Wahrscheinlichkeit, daß es in Syrakus auch genügend Angehörige seines eigenen Volkes gab, um eine Mißgeburt zu steinigen, war für seinen Geschmack zu groß, wie auch die Möglichkeit, einfach zurückgelassen zu werden. Er wunderte sich nicht, daß auch Ilian sich kaum vom Fleck rührte. Zu dem Zeitpunkt, als die Insel Ithaka in Sicht kam, hatten sich allerdings einige Dinge geändert. Trotz mancher grober Scherze und im Gegensatz zu Arions ursprünglichen Prophezeiungen hatte kein Mitglied der Mannschaft versucht, ihm oder Ilian ein Leid anzutun. Ulsna war sogar sicher, einige Freunde gewonnen zu haben. Das verringerte seine Furcht, im Fall eines Landgangs am Ende zurückzukehren, nur um das Schiff nicht mehr vorzufinden. Und selbst falls das Schiff ohne ihn lossegeln würde, so stellte Ithaka doch das dar, um dessentwillen er seine Heimat verlassen hatte: eine neue Welt, in der er neu anfangen konnte.
Er war verblüfft, daß Ilian seine Meinung nicht teilte.
»Ich möchte nicht noch einmal von vorn mit dem Überreden eines Kapitäns beginnen müssen«, sagte sie, während sie beide auf den graugrünen, gezackten Umriß am Horizont
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