Die Söhne der Wölfin
Arme vor der Brust. »Jemand hat mir gesagt, daß nichts ohne Gegenleistung geschieht. Du hast mir geholfen und für mich bezahlt, also begleite ich dich zu deiner Sicherheit nach Delphi. Danach ist alle Schuld getilgt.«
Arion lag der Einwurf auf der Zunge, daß Ilian bei einem ordentlichen Führer und als Mitglied einer Gruppe von Reisenden, wie er sie ihr vorzuschlagen gedachte, nur noch Räuber zu fürchten brauchte, und daß ein Knabe wie Ulsna bei einem Raubüberfall keine Hilfe sein würde, doch er schluckte beide Bemerkungen hinunter. Er erinnerte sich nur zu gut, wie empfindlich der männliche Stolz in diesem Alter war, und der Junge hatte ihm keinen Grund gegeben, ihn zu verletzen. Zudem war es verständlich, daß er seine Schuld bei Ilian begleichen wollte, und obwohl er es nie zugegeben hätte, erleichterte es Arion. Was auch immer Ilian mit Ulsna verband, es war doch nur eine Zweckgemeinschaft.
Da Ilian offenbar nicht wußte, was sie dem Jungen entgegnen sollte, meinte Arion unverbindlich, wenn es Ulsna gelänge, auf dem besagten Fest ein Oberhaupt der ersten Familien genügend zu beeindrucken, dann würde ein solcher Gönner möglicherweise auch zwei, drei Monate warten.
»Wird der König auch kommen?« fragte Ulsna, dankbar für den Themawechsel.
»Wir haben in Korinth keine Könige mehr. Die Stadt wird von den ersten Familien regiert.«
Die beiden Rasna wirkten gleichermaßen entsetzt.
»Keine Könige? Aber...«, begann Ilian und hörte sich so verstört an, wie Arion sie noch nie erlebt hatte, »wer verbindet die Stadt mit den Göttern? Wer ist der Anführer in Kriegszeiten? Wer bringt das höchste Opfer, wenn es nötig ist? Und wer vollzieht...«
Jäh brach sie ab, und Ulsna, der spürte, daß sie beinahe nach etwas gefragt hätte, was sie nicht aussprechen wollte, sprang mit einer Frage ein, die für ihn noch wichtiger war. Edle als Gönner waren zweifellos hervorragend, aber ohne einen, der sie an Ansehen überragte, wußte man nicht, nach wessen Haushalt man streben sollte.
»Ist das in ganz Hellas so?«
»Nein. Die meisten Städte haben ihren Basileos noch. Beim Zeus, die Spartaner haben sogar zwei. Aber die Athener wählen ihren Archon auch aus den ersten Familien wie wir.«
Nicht, dachte Arion, und sein Gesicht verdüsterte sich kurz, daß es in den letzten Jahren einen Wechsel innerhalb der Familien gegeben hätte . Seine Familie mochte zwar nicht so alt wie die Bakchiaden sein, doch nach allem, was Vater und Großvater geleistet hatten, nach allem, was auch seine Generation leisten würde, sollte man sie zumindest um ihren Rat in so wichtigen Angelegenheiten wie dem Haupt der Regierung von Korinth bitten. Da er jedoch nicht die Absicht hatte, derartige Überlegungen vor Ilian oder Ulsna in Worte zu kleiden, fuhr er rasch fort: »Und was das höchste Opfer angeht - es ist Generationen her, daß in Hellas ein König für sein Volk gestorben ist. Die Götter scheinen es nicht mehr zu verlangen. Wenn ihr mich fragt, es ist eine alte Sitte, die besser vergessen sein sollte. Warum den Mann töten, der das Ruder in der Hand hält?«
»Weil es Zeiten gibt, in denen sonst viel mehr sterben«, erwiderte Ilian. Sie hatte bereits die Bräune einer Bäuerin gehabt, als er ihr zum ersten Mal begegnet war, und die Wochen auf See hatten ihre Haut noch weiter nachgedunkelt. Dennoch erschien sie ihm in diesem Moment fahl wie das ausgeblichene Holz eines alten Schiffes. »Weil niemand sich anmaßen darf zu regieren, der nicht bereit ist, dieses höchste Opfer zu bringen.«
»Das sind Angelegenheiten für Priester«, meinte Arion mit einer Grimasse und wollte einen Scherz in der Richtung anschließen, er habe ihr eigenes Priesteramt fast vergessen, als er bemerkte, daß sie zitterte. Beunruhigt legte er ihr eine Hand auf die Stirn. Ehe sie zurückwich, stellte er fest, daß sie glühte.
»Du bist krank«, sagte er anklagend. Das war ein schlechtes Omen für sein Schiff, selbst wenn sie nun bald in Korinth sein würden. Manche Reisende erwischte es nur einen Tag vom heimatlichen Hafen entfernt.
»Es ist nur die Sonne«, entgegnete sie und suchte sich einen schattigen Platz am Heck des Schiffs.
In den folgenden Tagen zogen mehr und mehr Wolken auf, während Ilian weniger und weniger gesund wirkte. Sie hatte Fieber, das spürte Arion, wenn er nachts neben ihr lag. Wenn sie ihre Gebete und Beschwörungen sprach, tat sie dies immer noch so laut und sicher wie ehedem, doch das Schiff war zu klein, als
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