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Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Kleid wies keine Flecken auf und bestand aus einem feingewebten Stoff, in den spiralenförmige Muster gestickt waren. Sie war kein Mädchen mehr, doch ihrer Gestalt fehlte die Schwere, die die Mütter der anderen Kinder des Dorfes kennzeichnete; statt dessen bewegte sie sich mit der Behendigkeit eines Rehs. Ihre Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt, doch er erkannte keine grauen Strähnen wie bei den anderen Müttern oder seinem Vater. Sie roch nicht nach Schweiß, nicht nach Milch oder nach Essen; sie war es, von der der merkwürdige Gewürzduft ausging. Und sie sprach in einer fremden Sprache, in der der Tusci, wenngleich sie rasch in die latinische wechselte, als sie merkte, daß die Zwillinge kein Wort verstanden. Was sie da stockend sagte, war lächerlich.
    »Ich habe so lange darauf gewartet, euch wiederzusehen.«
    »Warum bist du dann weggegangen?« gab Romulus brüsk zurück.
    Ihr Blick, der soeben noch zwischen ihm und seinem Bruder hin- und hergewandert war, heftete sich nun ausschließlich auf ihn, was ihn zugleich freute und beunruhigte. Sie hatte braune Augen, doch es war ein anderes Braun als das, was er bei Remus sah. Gerade noch, als sie gesprochen hatte und im Schein der abendlichen Sonne, die durch den Eingang gelenkt wurde, gestanden war, hätte er es mit einer Haselnuß verglichen. Jetzt, als sie ihm den Kopf zuwandte und dadurch zur Hälfte in den Schatten geriet, erschien es ihm dunkler, wie das Messer aus Flintstein, das er sich im vergangenen Jahr gemacht hatte.
    »Ich hatte meine Gründe«, erwiderte sie langsam, und er entschied an Ort und Stelle, daß er ihre Stimme nicht mochte, nicht mit diesem Akzent und der Art, wie sie ein Wort zum Schwingen bringen konnte, so daß es sich in einem festsetzte und man es nicht mehr los wurde, ohne darüber nachzugrübeln. Grün-de. Ha!
    Remus machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, zupfte an ihrem Gewand, und sie sank auf die Knie, um ihn zu umarmen. Verräter. Remus ließ sich eben leicht einwickeln. Er vergab ja auch jedem, mit dem er sich prügelte. Romulus nicht. Romulus trug eine Kränkung in sich und ließ sie schwären, bis sie wie eine Eiterblase aufplatzte und seinen ungeheilten Groll verbreitete. Es war schmerzhafter so, aber es schärfte den Blick. Jetzt zum Beispiel war ihm klar, daß dieses Niederknien nur eine alberne Geste darstellte. Sie waren beide schon neun, und Remus war groß für sein Alter. Erwachsene konnten ihn auch im Stehen umarmen.
    Über die Schulter seines Bruders hinweg hörte sie nicht auf, ihn anzusehen, und Romulus starrte zurück, nicht gewillt, sich einschüchtern zu lassen. Er wartete nur darauf, daß sie weinte, aber das tat sie nicht.
    »Komm her«, sagte sie.
    »Ich will nicht.«
    »Romulus«, mischte sich sein Vater mahnend ein, »begrüße deine Mutter.«
    »Sie ist nicht meine Mutter«, stieß Romulus hervor. »Da glaube ich doch noch eher, daß eine Wölfin uns gesäugt hat, wie alle behaupten.«
    Damit wandte er sich um und rannte davon, aus der Hütte hinaus, durch die neugierige Menge hindurch und bis zum Waldrand, obwohl es bald dunkel sein würde und die Frühlingsnächte in diesem Jahr noch sehr kühl blieben. Er wartete zwei Stunden, halb in der Hoffnung, sie würde in der Zwischenzeit wieder verschwunden sein, halb in der Erwartung, sie und der Vater würden gemeinsam nach ihm suchen. Am Ende jedoch war es nur Remus, der ihn neben der Eiche fand, wo sich ihre Schweine heute an Eicheln satt gefressen hatten.
    »Du verpaßt alles«, sagte sein Bruder, der leicht außer Atem war, zu ihm. »Sie hat uns allen Geschenke mitgebracht, und sie erzählt wunderbare Geschichten. Sie muß in allen Ländern der Welt gewesen sein!«
    »Ich erzähle auch wunderbare Geschichten«, gab Romulus eisig zurück, »und ich war nirgendwo. Laß du dich nur gegen Geschenke und Geschichten eintauschen wie einen Sack Getreide auf dem Markt. Ich hasse sie!«
    Bei all seiner Offenherzigkeit legte Remus gelegentlich ein bemerkenswertes Gespür dafür an den Tag, wann es besser war, zu schweigen. Er widersprach nicht, sondern legte Romulus lediglich seinen Arm um die Schulter. Nach einer Weile zuckte Romulus die Achseln und folgte seinem Bruder zurück in ihr Heim.

    Faustulus war sich nicht sicher, ob er in einem Traum oder in einem Alptraum gefangen war, bis sie ihm half, für die Vögel - die »Hühner«, die sie mitgebracht hatte - in seinem Stall einen Platz zu finden. »Sie fliegen nicht davon«, erklärte sie, »aber

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