Die Söhne.
diesmal ohne Bitterkeit, »machen Sie sich darüber keine Sorgen. Selbst Ihre Gelehrsamkeit, trotzdem sie mir nicht eben gründlich scheint, taugt noch immer mehr als das aus ›frommer Schau‹ stammende Wissen Ihres Leibeigenen oder Ihres minäischen Wundertäters. Ich habe oft den Versuch gemacht, aus der gerühmten, unverbildeten Seele des Laien irgendeine Erkenntnis herauszuziehen, aber wenn ich noch so objektiv prüfte, die Intuition des Laien hat mich niemals weitergeführt. Wenn es darum geht, einen Tisch zu zimmern, ein Bauernhaus zu bauen, eine Verstopfung zu kurieren, dann mag der gemeine Menschenverstand des Laien zur Not genügen; aber wenn ich einen richtigen Schreibtisch brauche, gehe ich zum gelernten Tischler, und wenn ich ein richtiges Haus haben will, gehe ich zum Architekten, und wenn ich Wundbrand habe, gehe ich zum Chirurgen. Ich sehe nicht ein, warum ich, wenn ich eine tiefere Erkenntnis Jahves haben will, zum Armen im Geiste gehen soll und nicht zum Spezialisten, der Jahves Bücher studiert hat. Ich kann mich nicht mit denjenigen befreunden, die gegen den Intellekt losziehen und nicht Rühmens genug von der Intuition machen können. Nicht mittels Intuition hat Pythagoras herausgefunden, daß die Summe der Quadrate der beiden Katheten dem Quadrat der Hypotenuse gleich sei, und wenn der Ingenieur Sergius Orata sich auf seine Intuition verlassen hätte, dann wäre die Warmwasserheizung nie erfunden worden. Wenn es Rationalismus ist, die Reichen im Geist den Armen vorzuziehen, dann bin ich Rationalist.«
Er zog mechanisch spielend an der Kette, die das Schöpfrad der Zisterne bewegte. Es gab ein so hartes Knarren, daß er erschreckt davon abließ. Er setzte sich bequemer zurecht und fuhr mit leiser, doch klarer Stimme fort: »Unsere Väter waren nicht viele, sie zogen durch die Wüste, feste Siedlungen waren ihnen unbekannt, sie kämpften mit wilden Tieren, mit den Unbilden eines harten Himmels, sie schlugen sich gegenseitig tot, sie hatten wenig Zeit für Forschung, sie waren auf Intuition angewiesen. Mittlerweile sind wir mehr geworden, wir haben gelernt, in Dörfern und Städten zu wohnen, und wir haben Methoden gefunden, auf logischem Weg unbestreitbare Tatsachen zu erkennen. Wir brauchen jetzt keine Intuition mehr, wir haben Wissenschaft. Ich bin froh, daß wir in einer Epoche der Städte und gesellschaftlichen Bindungen leben, ich sehne mich nicht zurück nach der Zeit der Wüste, der Intuition und der Propheten. Wenn einer sich heute für einen Propheten ausgibt, halte ich ihn für einen Schwindler oder für einen Narren, und wenn einer seine unbeweisbare Intuition gegen meine beweisbaren Fakten ausspielen will, werde ich unangenehm. Ich betrachte Leute, die mir verbieten wollen, meinen Kopf zu gebrauchen, als meine Feinde. Ich sehe nicht ein, warum einer, der Verstand hat, weniger fähig sein sollte, Gott zu erkennen, als einer, der keinen hat.«
Josefs geistiger Hochmut hatte in diesen letzten Wochen viele Stöße erlitten; es tat ihm gut, die Worte des Justus zu hören, er verlangte nach mehr. Er sagte: »Sie wollen nicht sehen, mein Justus, worum es diesen Leuten geht. Diese Leute glauben, daß man, wenn man sich nur zur Genüge in sich selber versenkt, Gott in sich einatmen könne wie Luft; sie glauben, daß überhebliches Vertrauen in das eigene Wissen sich wie ein Panzer um das Herz legt, so daß es sich zusperrt und Gott nicht mehr empfangen kann, wenn er kommt. Ich kenne sehr gebildete Männer, bewandert in den Methoden logischer Forschung, die es gleichwohl nicht verschmähen, von den Minäern zu lernen.«
Die Nacht war so still, daß einem das leise Knacken eines brechenden Zweiges laut schien; das bläuliche Dunkel schien noch dunkler durch die vielen, vag leuchtenden Insekten. »Die Melodie, die Sie mir da singen, ist mir sehr vertraut«, kicherte der dünne Justus. »Zurück in die Wüste, fort von der Zivilisation, fort vom Denken, zurück zur reinen Schau: dann findet ihr Gott. Alle diejenigen, denen Gott Urteilskraft versagt hat, predigen das mit Inbrunst. Diejenigen aber, die es predigen, trotzdem sie denken können, werden lediglich aus Feigheit zu Verrätern am Geist: weil sie nämlich Angst haben vor ihren eigenen Erkenntnissen.«
Josef, nach einer Weile, wagte sich weiter vor. Es drängte ihn sehr, in dem Zwiespalt, der ihn jetzt am meisten bedrückte, das Urteil gerade dieses Justus anzurufen; denn ihn allein anerkannte er als zuständigen Richter.
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