Die Söhne.
Handwerks begriffen? Schauen Sie sich die Messiaslegende der Minäer an. Was die Minäer da erzählen, ist voll offenbaren Widerspruchs; jeder Einsichtige muß begreifen, daß es so nicht gewesen sein kann, und noch leben Leute aus Jerusalem und Galiläa, die das gesehen haben müßten, was die Minäer berichten, und die es nicht gesehen haben. Beweist das nicht, wieviel stärker eine Legende ist, die den Menschen bequem eingeht, als eine unbequeme historische Wahrheit? Die Wirklichkeit ist bloßer Rohstoff und zum Gebrauch für das Gefühl wenig geeignet. Sie taugt erst, wenn sie zur Legende verarbeitet ist. Wenn eine Wahrheit sich halten soll, muß sie mit Lüge legiert werden.«
Der Lärm um sie hatte zugenommen. Bekannte winkten Josef den Gruß. Der, während er ihn erwiderte, sah unver wandt auf den andern, der dünn und steif dasaß, befremdlich durch den fehlenden Arm, unangenehm kichernd, wie das in letzter Zeit seine Gewohnheit war. Josef hörte gespannt zu, aber er konnte die Worte des Justus so schnell nicht fassen und fragte, ein wenig töricht: »Was sagten Sie da, mein Justus?« Und Justus, wie einem Kinde, das schwer begreift, wiederholte ihm, jedes Wort betonend und in Aramäisch, während er bisher griechisch gesprochen hatte: »Wenn eine Wahrheit sich halten soll, muß sie mit Lüge legiert werden.«
Doch Josef, gleichzeitig mächtig gelockt und gewaltig erzürnt, hielt ihm vor: »Das sagen Sie mir, Justus, der am bittersten jeden Kompromiß verlachte?« Justus aber erwiderte ungeduldig: »Verstellen Sie sich? Wollen Sie mich absolut nicht verstehen? Rede ich einem Kompromiß das Wort? Die reine, absolute Wahrheit ist unerträglich, niemand hat sie, sie ist auch nicht erstrebenswert, sie ist unmenschlich, sie ist nicht wissenswert. Aber jeder hat seine eigene Wahrheit und weiß auch genau, was seine Wahrheit ist; denn sie ist scharf umrissen und einzig. Und wenn er von dieser seiner individuellen Wahrheit nur um ein Jota abweicht, dann spürt er es und weiß, daß er eine Sünde begangen hat. Sie nicht?« fragte er herausfordernd.
»Was nützt es«, fragte bitter Josef, »eine Wahrheit zu verkünden, wenn es doch nur eine subjektive Wahrheit ist, nicht die Wahrheit?«
Justus schüttelte über soviel Unverstand den Kopf. Dann, ein wenig ungeduldig, erklärte er: »Die Wahrheiten, die der Politiker heute in Taten umsetzt, sind die Wahrheiten, die der Schriftsteller gestern oder ehegestern verkündet hat. Ist Ihnen das nicht bekannt? Und die Wahrheiten, die der Schriftsteller heute verkündet, wird ein Politiker morgen oder übermorgen in Wirklichkeit umsetzen. Die Wahrheit des Schriftstellers ist unter allen Umständen reiner als die des Tatmenschen. Der Tatmensch nämlich, der Politiker, hat auch im besten Fall nicht die Chance, seine Konzeption, seine Wahrheit, rein zu verwirklichen. Sein Material sind die andern, sind die Massen, ihnen muß er immerfort Konzessionen machen, mit ihnen muß er arbeiten. Die Massen aber sind ihrer Natur nach dumm. Der Politiker arbeitet also mit dem undankbarsten, unanständigsten Stoff, den es gibt: er muß, der Arme, seine Wahrheit statt mit einer anständigen Lüge immerzu mit der Dummheit der Massen versetzen. So bleibt, was er auch macht, brüchig, zum Untergang verurteilt. Die Chance des Schriftstellers ist besser. Gewiß ist auch seine Wahrheit ein Gemenge aus den Fakten, der Umwelt, der Realität, und seinem eigenen, unbeständigen, gauklerischen Ich; aber diese seine subjektive Wahrheit darf er wenigstens rein ans Licht stellen, ja, er darf eine gewisse Hoffnung hegen, daß sie allmählich zur absoluten Wahrheit wird, einfach durch ihre Dauer; denn da die Tatmenschen immerzu mit dieser seiner theoretischen Wahrheit herumexperimentieren, besteht eine leise Möglichkeit, daß einmal, unter günstigen Umständen, die Wirklichkeit sich seiner Theorie fügt. Die Taten vergehen, die Legenden bleiben. Und die Legenden schaffen immer neue Taten.«
Lastträger liefen hin und her, sie beluden das Schiff »Glück«. Josef schaute ihnen zu, doch nur sein Auge nahm sie wahr, er war beschäftigt mit dem, was Justus sagte. Der wandte ihm jetzt sein Gesicht voll zu und fuhr fort, halb bedauernd, halb bösartig: »Freilich ist es dem großen Schriftsteller auch nicht immer leicht, seinen Wahrheiten treu zu bleiben. Es sind zumeist unbehagliche Wahrheiten, und sie gefährden seinen Erfolg in die Breite. Erfolg in die Breite hat auch ein Schriftsteller
Weitere Kostenlose Bücher