Die Somalia-Doktrin (German Edition)
und gab ihr tropfenweise Wasser in dem verzweifelten Versuch, sie zu beruhigen.
Mit der rechten Hand schützte Abdi seine Augen vor der Mittagssonne und richtete seinen Blick in Richtung der Staubwolke. Er zählte die Fahrzeuge: Es waren neun, allesamt leuchtend weiß. Auf dem an der Spitze wehte eine graue Fahne mit dem Emblem von Universal Action.
Seine Miene bewölkte sich. »Hoffen wir, dass sie diesmal richtiges Essen bringen«, murmelte er, »nicht wie die anderen.«
Khalid blickte verständnislos zu ihm auf.
Abdi tätschelte ihm den Kopf. »Ich bin sicher, diesmal ist alles in Ordnung. Allah sorgt für die seinen.«
Insgeheim jedoch machte er sich Sorgen. Die letzten drei Konvois während der vergangen Monate hatten Hunderte von Säcken Getreide gebracht, von denen sie kaum einen hatten essen können. Sie lagen jetzt in großen Haufen in der Mitte des Lagers in der sengenden Hitze und faulten dort vor sich hin. Keiner verstand warum. Selbst die UA-Arbeiter vor Ort verstanden das alles nicht, bekamen aber keine Antwort aus dem Hauptquartier in Hargeysa.
Einige der Frauen sagten, das Getreide sei verflucht.
Und dabei waren alle zunächst so optimistisch gewesen. Ein Hochgefühl hatte sich ausgebreitet, nachdem sie das Getreide gekocht und gegessen hatten. Die Schmerzen des Hungers waren wie fortgeblasen.
»Eine Wundernahrung«, hatten die Frauen ekstatisch gerufen. Von neuer Energie erfüllt hatten sie alle euphorisch die Hände gehoben zum Dank. Dann kam es über sie: schlaflose Nächte, Orientierungslosigkeit, Angst, Paranoia. Einige der kleineren Kinder starben recht schnell. Die älteren kämpften ums Überleben, geschwächt von was auch immer das Getreide enthielt.
Auf seinen Stock gestützt humpelte Abdi auf den Eingang des Lagers zu. Sein Sohn kam hinter ihm her. Vor Jahren hatte Abdi ein von Banditen gestohlener NRO-Laster angefahren. Er hatte damals, während des somalischen Bürgerkriegs, mit seiner Frau im Lager von Dadaab in Ostkenia gelebt. Der Laster hatte ihm das rechte Bein zerquetscht, und es hatte sich davon nie erholt.
Er nickte einer Gruppe junger Männer zu, die neben einer Hütte saßen. Sie kamen schwankend auf die Beine und folgten ihm in gebührendem Abstand. Einige von ihnen hatten alte Kalaschnikows, wenn auch wahrscheinlich keine Munition dafür. Obwohl er verkrüppelt war und erst Anfang dreißig, galt Abdi als einer der Ältesten des Unterclans. Die Älteren waren allesamt tot.
Die ersten drei Fahrzeuge kamen näher. Der Rest des Konvois teilte sich; die eine Hälfte scherte nach links aus, die andere nach rechts.
Was hatten die vor? Hatten sie denn keine Nahrungsmittel geladen? Und Medizin?
Die drei Fahrzeuge, die auf sie zuhielten, wurden schneller. Der junge Khalid stieß einen Warnruf aus. Abdi blickte die Männer rund um ihn an, um ihre Reaktion abzuschätzen, aber sie waren zu müde und hungrig, um zu mehr als einem starren leeren Blick fähig zu sein. Er wandte sich wieder den heranfahrenden Lastern zu. Die anderen Fahrzeuge umzingelten das Lager. Das entsprach nun wirklich nicht dem üblichen Verhalten von Hilfskonvois. So etwas hatten sie bei den Milizen gesehen.
Seine Befürchtungen bestätigten sich, als bewaffnete Milizleute von den Lkw sprangen, die das Lager umzingelt hatten. Sie trugen grüne Armeekleidung mit gescheckten roten Tüchern um den Kopf, so dass man außer der Augen von den Gesichtern nichts sah. Sie hatten Patronengurte um den Oberkörper und trugen Sturmgewehre.
Nur dass ihre Kalaschnikows tatsächlich geladen waren.
Die Milizleute rannten auf sie zu und begannen zu schießen. Abdi durchlief ein Schauer, als der Mann neben ihm von einer Kugel in den Kopf getroffen zusammenbrach. Einige Geschosse flogen so nahe an ihm vorbei, dass er das Knallen der verdrängten Luft hörte. Abdis Sohn kreischte auf. Ein weiterer Mann ging zu Boden, eine rote Fontäne aus seinem Hals bespritzte Abdis Beine mit Blut. Abdi kniete nieder und versuchte das Bluten der klaffenden Wunde zu stoppen. Der Mann starrte ihn an und ergriff Abdi mit beiden Händen. Aus seinem Mund drang ein gurgelnder Laut. Dann wurde das Weiße seiner Augen rot und Abdi wusste, der Mann war tot.
Im ganzen Lager wurden Schreie laut, als die Nachricht von dem Überfall sich verbreitete und mehr und mehr Menschen den Schüssen zum Opfer fielen. Es war ein kleines Lager mit kaum tausend Insassen, die alle von ein und demselben Unterclan des Isaaq-Clans waren. Sie hatten kaum etwas, um
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