Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
Jahre.« Dann, schulmeisterlich: »So alt wie die Bücher selbst.«
Wow. Lapin, erst eine Novizin? Sie muss um die achtzig sein.
»Wie sind Sie dazu gekommen?«, frage ich.
»Ich war Kundin in seinem Laden«, sagt sie. »Und hatte schon, oh, sechs oder sieben Jahre Bücher bei ihm gekauft. Eines Tages war ich gerade dabei, eins zu bezahlen – ich ent sinne mich ganz deutlich –, als Mr. Penumbra mir in die Augen sah und sagte: ›Rosemary‹« – sie bekommt Penumbras Tonfall gut hin – »›Rosemary, warum magst du Bücher so gern?‹ Und ich sagte: ›Naja, ich weiß nicht.‹« Sie klingt jetzt angeregt, fast mädchenhaft. »›Ich schätze mal, ich mag sie, weil sie leise sind und ich sie in den Park mitnehmen kann.‹« Sie kneift die Augen zusammen. »Er schaute mich nur an und sagte kein Wort. Also fuhr ich fort: ›Naja, also eigentlich mag ich Bücher so gern, weil sie meine besten Freunde sind.‹ Da lächelte er – er hat ein wundervolles Lächeln –, und dann ging er rüber und stieg auf diese Leiter und kletterte höher hinauf, als ich ihn je hatte hochklettern sehen.«
Natürlich. Ich hab’s kapiert: »Er hat Ihnen einen der Ladenhüter gebracht.«
»Wie nannten Sie das eben?«
»Oh, die – Sie wissen schon, die Regale weiter hinten. Die Codebücher.«
»Es sind codices vitae «, betont sie. »Ja, Mr. Penumbra hat mir eines gegeben, und er gab mir den Dechiffrierschlüssel dazu. Aber er sagte, es sei der einzige Schlüssel, den er mir je geben würde. Den nächsten würde ich selbst herausfinden müssen und den nächsten danach.« Lapin runzelt ein wenig die Stirn. »Er sagte, ich würde nicht lange brauchen, ein Mitglied der Ungebundenen zu werden, aber ich habe mich sehr schwergetan.«
Moment: »Der Ungebundenen?«
»Es gibt drei Orden«, sagt Lapin und zählt sie an den Fingern ab. »Novize, Ungebundener und Gebundener. Um Ungebundener zu werden, löst man das Rätsel des Gründers. Es ist der Laden, verstehen Sie. Man geht von einem Buch zum nächsten, decodiert jedes einzelne und findet darin den Schlüssel zum nächsten. Sie sind alle nach einem bestimmten System einsortiert. Es ist wie ein Wollknäuel.«
Ich verstehe. »Das Rätsel, das ich gelöst habe.«
Sie nickt einmal, runzelt die Stirn, trinkt ihren Tee. Dann sagt sie, als fiele es ihr plötzlich ein: »Wissen Sie, ich war früher einmal Programmiererin.«
Nie im Leben.
»Damals, als die Computer noch groß und grau waren, wie Elefanten. Oh, es war harte Arbeit. Wir waren die Ersten, die das gemacht haben.«
Wahnsinn. »Wo denn?«
»Bei Pacific Bell, unten an der Sutter Street« – sie zeigt mit einem Finger Richtung Innenstadt – »damals, als Telefone immer noch sehr hightech waren.« Sie grinst und klappert dramatisch mit den Wimpern. »Ich war eine sehr moderne junge Frau, wissen Sie.«
Oh, zweifellos.
»Aber seit ich ein solches Gerät zum letzten Mal benutzt habe, ist sehr viel Zeit vergangen. Mir kam nicht einmal in den Sinn, dasselbe zu tun wie Sie. Oh, obwohl das alles« – sie macht eine flüchtige Geste in Richtung der Stapel mit Büchern und Papieren – »eine so gewaltige Aufgabe gewesen ist. Sich von einem Buch zum nächsten zu kämpfen. Manche Geschichten sind ja gut, andere hingegen …« Sie seufzt.
Draußen ertönen trappelnde Schritte, helles, vielstim miges Vogelkreischen, dann folgt ein ungeduldiges Klopfen an die Haustür. Lapins Augen weiten sich. Das Klopfen hört nicht auf. Die Tür bebt.
Lapin erhebt sich aus ihrem Stuhl und dreht den Türknauf, und da steht Tyndall, mit wildem Blick, zerzaustem Haar, eine Hand am Kopf, die andere zum Klopfen erhoben.
»Er ist fort!«, ruft er und stürzt herein. »Zur Bibliothek gerufen! Wie kann das sein?« Er läuft im Kreis herum, immer wieder – eine Spiral e aus nervöser Energie, die sich ständig entrollt. Er späht zu mir herüber, aber er bleibt weder stehen noch verlangsamt er seine Schritte. »Er ist fort! Penumbra ist fort!«
»Maurice, Maurice, beruhigen Sie sich«, sagt Lapin. Sie führt ihn zu ihrem Stuhl, in dem er, immer noch zuckend und zappelnd, zusammensackt.
»Was werden wir tun? Was können wir tun? Was müssen wir tun? Jetzt, wo Penumbra fort ist …« Tyndall verstummt, dann neigt er den Kopf und schaut zu mir herüber. »Könnten Sie notfalls den Laden führen?«
»Moment mal, nicht so schnell«, sage ich. »Er ist ja nicht gestorben. Er ist nur – sagten Sie nicht gerade, dass er eine Bibliothek
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