Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
Gehörnten Hüter des Lesesaals formulieren kann – offensichtlich Edgar Deckles Transformation in Tiergestalt –, ruckelt es noch mehr, und die Höhle bebt und brüllt, und ich muss den Scanner festhalten, damit er nicht umfällt. Unendlich erleichtert wird mir klar, dass es nur die U-Bahn ist, die nebenan durch das Felsgestein jagt. Das Geräusch verfängt sich in seinem eigenen Widerhall und ebbt in der Dunkelheit der Höhle zu einem dumpfen Rumpeln ab. Endlich ist es vorbei, und ich fange wieder an zu scannen.
Blätter, blitz, knips.
Viele Minuten vergehen, vielleicht auch mehr als nur Minuten, und Trostlosigkeit erfasst mich. Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich nicht zu Abend gegessen habe und mein Blutzuckerspiegel gerade auf Talfahrt geht, vielleicht ja auch, dass ich in einem eiskalten, rabenschwarzen unterirdischen Gewölbe mutterseelenallein bin. Aber was immer der Grund ist, die Wirkung ist deutlich: Mir wird die Blödheit dieses ganzen Unternehmens intensiv bewusst, dieser absurden Sekte. Das Buch des Lebens? Es ist ja kaum ein Buch. Die Drachenlied-Chroniken: Teil III ist ein besseres Buch als das hier.
Blätter, blitz, knips.
Aber natürlich: Ich kann es ja nicht lesen. Würde ich dasselbe über ein Buch sagen, das in Chinesisch oder Koreanisch oder Hebräisch geschrieben ist? Die große Thora in den Syna gogen sieht doch auch so aus, oder? Blätter, blitz, knips – dicke Raster aus undurchdringlichen Symbolen. Vielleicht ist es meine eigene Beschränktheit, die mir zusetzt. Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich nicht verstehe, was ich hier scanne. Blätter, blitz, knips. Und wenn ich es lesen könnte? Wenn ich einen Blick über die Seite werfen und, naja, die Pointe verstehen könnte? Oder atemlos einem Cliffhanger folgen würde?
Blätter, blitz, knips.
Nein. Während ich die Seiten dieses chiffrierten Kodex wende, wird mir klar, dass die Bücher, die ich am meisten liebe, wie offene Städte sind, in die man über alle möglichen Wege hineingelangen kann. Dieses Ding hingegen ist eine Festung ohne Eingangstor. Man muss ihre Mauern erklimmen, Stein für Stein.
Mir ist kalt, ich bin müde und hungrig. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen ist. Es kommt mir vor, als hätte ich mein ganzes Leben in dieser Kammer verbracht und dabei hin und wieder von einer sonnigen Straße geträumt. Blätter, blitz, knips, blätter, blitz, knips, blätter, blitz, knips. Meine Hände sind kalte Klauen, verdreht und verkrampft, als hätte ich den ganzen Tag mit Videospielen verbracht.
Blätter, blitz, knips. Das hier ist ein schreckliches Videospiel.
Endlich bin ich fertig.
Ich verschränke die Finger und biege sie nach hinten, drücke sie hinaus ins All. Ich springe herum, versuche, meine Knochen und Muskeln wieder zu einem halbwegs normalen hominiden Erscheinungsbild zu konfigurieren. Es klappt nicht. Meine Knie tun weh. Mein Rücken ist verspannt. Stechende Schmerzen schießen mir von den Daumen in die Handgelenke. Ich hoffe, es ist nichts Bleibendes.
Ich schüttle den Kopf. Es geht mir wirklich mies. Ich hätte einen Müsliriegel mitbringen sollen. Plötzlich weiß ich sicher, dass Verhungern in einer pechschwarzen Höhle die schrecklichste aller Todesarten ist. Dabei fallen mir all die Codices Vitae wieder ein, die die Wände säumen, und plötzlich gruselt es mich. Wie viele tote Seelen sitzen dort – und warten – in den Regalen, die mich auf allen Seiten umgeben?
Eine Seele ist wichtiger als die anderen. Es wird Zeit, das zweite Ziel dieser Mission in Angriff zu nehmen.
Penumbras Codex Vitae ist hier. Mir ist kalt, ich zittere, und ich will hier raus, aber ich bin gekommen, nicht nur um Aldus Manutius, sondern auch um Ajax Penumbra mitgehen zu lassen.
Damit das klar ist: Ich glaube nicht an diesen Kram. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Bücher hier Unsterblichkeit verleihen können. Ich habe mich gerade durch so eins gequält; es ist nichts als schimmeliges Papier, das in noch schimmeligeres Leder eingebunden ist. Es ist ein Klumpen aus totem Baum und totem Fleisch. Aber wenn Penumbras Codex Vitae das große Werk seines Leben ist – wenn er wirklich alles, was er gelernt hat, sein gesamtes Wissen, in ein einziges Buch gegossen hat –, dann finde ich, naja, dass jemand eine Sicherheitskopie davon machen sollte.
Es ist wahrscheinlich ziemlich aussichtslos, aber diese Gelegenheit wird sich mir nie wieder bieten. Darum beginne ich entlang der Wände, bücke mich und
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