Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
Bahn und winkt mit dem freien Arm zur Kamera. Tyndall als Cablecarfahrer; ja, ich kann es mir vorstellen. Er war wahrscheinlich –
»Gewaltig!« Er ist immer noch auf seiner Umlaufbahn. »Unbeschreiblich! Wann? Wo?«
»Freitagvormittag, Mr. Tyndall«, sage ich. Freitagvormittag, im hell leuchtenden Epizentrum des Internets.
Ich sehe Kat fast zwei Wochen nicht. Sie ist damit beschäftigt, alles für die Große Entschlüsselung zu organisieren, und sie hat auch noch mit anderen Google-Projekten zu tun. Das Produktmanagement ist ein Flatrate-Buffet, und sie hat Hunger. Sie hat keine meiner verliebten E-Mails beantwortet, und wenn sie mir eine SMS schickt, besteht sie höchstens aus zwei Worten.
Schließlich treffen wir uns am Donnerstagabend zu einem halbherzigen Rendezvous in einer Sushibar. Es ist kalt, und sie trägt einen dicken Hahnentritt-Blazer über einem dünnen grauen Pulli und einer glänzenden Bluse. Von einem roten T-Shirt keine Spur mehr.
Kat schwärmt mir von den Google-Projekten vor; sie hat jetzt in alle Einblick. Sie arbeiten an einem Browser in 3-D. Sie arbeiten an einem Auto, das sich von selbst lenkt. Sie arbeiten an einer Sushi-Suchmaschine – hier zeigt sie mit dem Stäbchen auf unser Essen –, um Leuten zu helfen, nachhaltigen und quecksilberfreien Fisch zu finden. Sie bauen eine Zeitmaschine. Sie entwickeln eine neue Form von erneuerbarer Energie, die sich aus Selbstüberschätzung speist.
Bei jedem neuen Megaprojekt, das sie mir schildert, merke ich, wie ich immer kleiner und kleiner werde. Wie sollst du auf Dauer das Interesse an etwas – oder jemandem – aufrecht erhalten, wenn die ganze Welt deine Leinwand ist?
»Aber was mich wirklich interessiert«, sagt Kat, »ist Google Forever.« Genau: Lebensverlängerung. Sie nickt. »Sie brauchen mehr Personal. Ich werde ihre Verbündete beim PM sein – mich richtig für sie starkmachen. Es könnte die wichtigste Arbeit sein, die wir leisten können, langfristig.«
»Ich weiß nicht, also das Auto klingt ziemlich hammermäßig –«
»Vielleicht geben wir ihnen morgen etwas, womit sie arbeiten können«, fährt Kat fort. »Was ist, wenn wir in diesem Buch etwas ganz Verrücktes finden? Eine DNA -Sequenz zum Beispiel? Oder die Formel für ein neues Medikament?« Ihre Augen leuchten. Eins muss man ihr lassen: Ihre Unsterblichkeitsfantasien sind unerschöpflich.
»Du traust einem Verleger aus dem Mittelalter eine ganze Menge zu«, sage ich.
»Man hat den Erdumfang schon tausend Jahre vor Erfindung des Buchdrucks berechnet«, entgegnet sie verächtlich. »Könntest du den Erdumfang berechnen?«
»Ähm – nein.« Ich überlege einen Augenblick. »Warte mal, könntest du es?«
Sie nickt. »Ja, es ist sogar ziemlich einfach. Was ich damit sagen will, sie haben damals etwas verstanden von ihrem Handwerk. Und es gibt Dinge, die sie wussten, die wir immer noch nicht wiederentdeckt haben. TK und OK , weißt du noch? Old knowledge, altes Wissen. Es könnte das ultimative OK sein.«
Nach dem Essen geht Kat nicht mit mir mit. Sie sagt, dass sie noch E-Mails lesen, Prototypen begutachten, Wikipedia- Einträge überarbeiten muss. Bin ich wirklich gerade an einem Donnerstagabend von einem Wiki ausgestochen worden?
Ich laufe allein durch die Dunkelheit und frage mich, wo man anfangen müsste, wenn man den Erdumfang berechnen wollte. Ich habe keine Ahnung. Vermutlich würde ich es einfach googeln.
DER ANRUF
E s ist die Nacht vor Kat Potentes geplantem Generalangriff auf den jahrhundertealten Codex Vitae des Aldus Manutius. Ihr Googler-Aufgebot ist zusammengestellt. Penumbras Hilfs truppen sind geladen. Es ist aufregend – ja, ich muss zugeben, es ist wirklich aufregend –, aber auch nervenaufreibend, weil ich keine Ahnung habe, wie es mit Mr. Penumbras Laden weitergehen wird. Der Mann selbst hat kein Wort dazu gesagt, aber ich habe das Gefühl, Penumbra will das alles hier abwickeln. Denn, ich meine, klar: Wer hat denn noch Lust, sich mit einer alten Buchhandlung zu belasten, wenn ewiges Leben winkt?
Wir werden sehen, was der morgige Tag bringt. Was immer geschieht, es wird eine gute Show. Vielleicht ist er ja hinterher bereit, über die Zukunft zu reden. Ich möchte immer noch eine Werbefläche für diese Bushaltestelle kaufen.
Heute Nacht ist wenig los; bisher waren nur zwei Kunden da. Ich gehe die Regale durch, sortiere meine Neuanschaffungen ein. Ich befördere die Drachenlied-Chroniken auf ein höheres Regalbrett, dann drehe
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