Die Sonne war der ganze Himmel
Sterlings Beförderung sorgte für Aufsehen, zumal sie mit der Verleihung eines Bronze Star für besondere Tapferkeit einherging. Wir sagten: »Gute Arbeit, Sarge«, und: »Das haben Sie sich verdient, Sarge«, und klopften ihm der Reihe nach auf den Rücken. Er salutierte zackig vor dem Major, machte eine Kehrtwende und setzte sich auf seinen Stammplatz vor einem Baum, den mit Bändchen versehenen Orden in der Hand.
Mir fiel erst nach dem Verschwinden des Majors und seines Begleiters auf, dass Murph die Zeremonie verpasst hatte. Und während der folgenden Wochen gewann ich den Eindruck, dass er mir aus dem Weg ging. Ich hatte zunächst keinen konkreten Anlass dafür, mir Sorgen zu machen. Auf Patrouille war er zwar abweisend, aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Wenn ich ihm in der Forward Operation Basis begegnete, tat er immer so, als wäre er in Eile, kehrte mir den Rücken zu, wenn ich ihn einholen wollte, senkte den Blick, wenn ich ihn ansprach. In Zeiten wie diesen war es normal, dass man ab und zu seine Ruhe brauchte, und seine Schufterei in dem verfluchten Bergwerk, von dem er immer wieder erzählte, lag noch nicht einmal ein Jahr zurück. »Shipp Mountain,«, sagte er dann, »das war vielleicht scheiße. Wir sind um drei oder vier Uhr früh im Förderkorb eingefahren, und ich habe hochgeschaut und gedacht, dass sich die ganze Welt über mir befindet, habe nach der Naht gesucht, die gleich reißen, mich zu Nichts zerfetzen würde. Verflucht, Bart«, sagte er dann, »ich hatte manchmal das Gefühl, die Sonne wochenlang nicht zu sehen.«
»Echt wahr?«
»Echt wahr«, sagte er.
Damals wurde es in Al Tafar wieder heißer. Wenn wir nach Sonnenuntergang auf Patrouille waren, schien der Staub ein eigenes Licht zu verstrahlen. Es war so verflucht heiß, dass wir Witze rissen, um Sterling auf die Palme zu bringen. »Es sind fast fünfzig Grad, Sarge. Warum strecken wir nicht einfach die Waffen und fahren nach Hause?«
»Klappe, ihr Schwanzlutscher«, erwiderte er dann, als wäre er schlechtgelaunt. Wenn er, was selten der Fall war, so etwas wie gute Laune hatte und uns gerade dabei beobachtete, wie wir Mauern oder Abwasserkanäle überwanden, bemerkte er lächelnd: »Das Leben ist Schmerz.« Woraufhin ich zu Murph sagte: »Wäre schön gewesen, wenn uns irgendjemand auf diese Scheiße vorbereitet hätte«, und wir waren beide so geblendet, als wäre die Sonne der ganze Himmel.
Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wann ich zum ersten Mal bemerkt hatte, dass es mit Murph bergab ging. Wenn ich das wüsste, so glaubte ich, würde es mir vielleicht gelingen, mit dieser Information etwas anzufangen. Aber seelische Veränderungen dieser Art vollziehen sich kaum merklich, und der Wunsch, die einzelnen Zustände voneinander zu unterscheiden, gleicht dem sinnlosen Versuch, die Abstufungen von Grau während der Dämmerung zu bestimmen. Die genauen Ursachen bleiben immer verborgen. Ich begann, den Krieg als großen Witz aufzufassen, wurde mir seiner Grausamkeit bewusst, merkte, wie verzweifelt ich Murphs neues und seltsames Verhalten zu ergründen, auf den entscheidenden Augenblick zurückzuführen versuchte, auf die eine Ursache, auf das eine Ereignis, an dem ich keine Schuld trug. Eines Nachmittags, ich warf mit Steinen auf einen Eimer, begriff ich schlagartig, dass ich mich lächerlich machte. Denn wie sollte ich eine Veränderung ergründen, ohne zu wissen, worin ihre Ursache bestand? Dieser Welt, dachte ich, war der Mittelpunkt abhanden gekommen; außerdem hatte jeder von uns einen Knacks.
Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Ich saß im Staub und versuchte vergeblich, Steine in einen Eimer zu werfen. Ich dachte viel über das absurde Versprechen nach, das ich Murphs Mutter gegeben hatte. Ich erinnerte mich weder an den Wortlaut ihrer Bitte noch an den meiner Antwort. Sollte ich ihn nach Hause bringen? Und wie? Unversehrt? Egal, in welchem Zustand? Ich hatte es vergessen. Wäre ich gescheitert, wenn er unglücklich oder nicht mehr richtig im Kopf wäre? Wie zum Teufel sollte ich jemanden beschützen, den ich nicht durchschaute? Ich durchschaute ja nicht einmal mich selbst. Scheiß auf dich, du alte Nutte, dachte ich, und dann begannen meine Gedanken erneut zu kreisen.
Ich wandte mich schließlich an Sterling. Er lachte. »Manche Jungs sind nicht tough genug, Private. Sie sollten sich an den Gedanken gewöhnen, dass Murph ein toter Mann ist.«
Ich widersprach. »Nein, bestimmt nicht, Sarge. Murph dreht nicht
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