Die Sonnwendherrin
werfen.«
Sie gingen das letzte Stück zum Schloss und blieben in Sichtweite einer mächtigen, knorrigen Eiche stehen. Iwan bildete sich ein, im verblassenden Mondschein das Schimmern des Netzes zu sehen, das sich quer über den Weg spannte. Doch er wusste, dass es nur Einbildung war. Das Netz konnte aus dieser Entfernung überhaupt nicht sichtbar sein.
»Sieht so aus, dass ich nicht weitergehen kann«, sagte der Wolf. »Nur einer darf da durch. Nun bist du auf dich selbst angewiesen, Junge.«
Iwan warf ihm einen langen Blick zu. Er wusste, dass er nicht versagen durfte. Nicht nach alledem, was sie bereits durchgemacht hatten.
»Denk an alles, was dir der alte Vogel gesagt hat, Jungchen«, fügte der Wolf hinzu. Er stand noch eine Weile da und beobachtete Iwans kleiner werdende Gestalt. Dann trottete er zurück in den Schatten der Bäume.
Iwan näherte sich vorsichtig der mächtigen Eiche. In zwanzig Schritt Entfernung ließ er sich auf alle viere nieder und kroch weiter, bis er tatsächlich das schimmernde Silber |89| der hauchfeinen Fäden sah. Sie waren so dünn – hätte Iwan nicht von dem Netz gewusst, wäre er einfach weitergegangen, ohne es zu bemerken.
Ihm war bewusst, dass die drei Fallen auf dem Weg zum Schloss absolut tödlich waren. Und doch fürchtete er sich mehr vor dem, was ihn drinnen in dem runden Gemach an der Spitze des Ostturms erwartete. Sein Herz raste bei dem Gedanken, sie wiederzusehen. Er hoffte nur, dass er dort oben auch wirklich in der Lage sein würde, das Richtige zu tun.
|90| Marja
In jener Nacht hatte ich wieder diesen Traum, der mich gelegentlich heimsucht. Ich schritt durch den Wald und hielt etwas in der Hand. Etwas Ovales, Warmes. Ich wollte die Hand öffnen und nachsehen, doch die Macht des Traums trieb mich vorwärts bis zu jener Hecke, die jenseits der Baumstämme im Sonnenschein glitzerte.
Es war mühsam, die Hecke zu erreichen. Meine Füße sanken tief in den Waldboden ein. Himbeerranken rissen an meinem Kleid und hielten mich mit ihren klebrigen Händen fest. Haselnusssträucher peitschten mir ins Gesicht. Junge Tannen versuchten, mich mit ihren Nadeln durch den dünnen Stoff meines Kleides hindurch zu stechen. Aber so leicht gab ich nicht auf. Ich wusste genau, dass ich die Hecke erreichen und hinaus in den Sonnenschein treten musste.
Als ich mich schließlich aus dem Griff des Waldes losriss, befand ich mich – wie immer in diesem Traum – auf der Lichtung am Opferteich. An jenem Ort also, an dem jedes Jahr eine auserwählte Opfermaid in das Wasser stieg, um für immer von Kupalos Liebe und meines Vaters Bedürfnis verschlungen zu werden.
Ein Mann wartete am Teich auf mich. Ein dunkler Mann, der am Ufer kauerte. Als ich aus dem Wald trat und ihn sah, überwältigte mich Angst. Ich wusste, dass der Mann jeden Moment sein Haupt zu mir wenden würde, und ich fürchtete mich panisch davor, sein Gesicht zu sehen. In dem Augenblick, da ich sah, wie sich seine Halsmuskeln spannten und er den Kopf zu drehen begann, schrie ich.
|91| Und erwachte.
Ich setzte mich mit rasendem Herzen im Bett auf. Nur langsam gewöhnten sich meine Augen nach dem hellen Sonnenschein der Lichtung nun an die Dunkelheit. Ich war allein in meinem Gemach. Es war Nacht. Es gab keinen fremden Mann. Alles war gut!
Und dann sah ich einen Umriss am Fenster. Die Gestalt eines Mannes.
Entsetzt beobachtete ich ihn, wie er aus dem Schatten auf mich zutrat und langsam in mein Blickfeld kam. Wie im Traum sah ich sein von Sommersprossen übersätes Gesicht, das strohfarbene Haar, die Kornblumenaugen, die mich so sanft und gütig anblickten, dass mein Herz beinahe aussetzte – aus Angst, sein lautes Schlagen könne ihn verscheuchen.
Er blieb vor mir stehen und blickte mir geradewegs in die Augen. »Hallo, Zarewna Marja«, sagte er, und beim Klang seiner Stimme bebte ich stärker als bei allen Liebkosungen meines Liebhabers dieser Nacht. Und eigenartigerweise war meine Angst völlig verflogen. Stattdessen stieg Wärme in mir auf.
Er hielt meinen Blick mit dem seinen fest, trat vor und kauerte sich vor dem Bett nieder, so dass sich sein Gesicht auf einer Höhe mit meinem befand. Wärme prickelte in meinem erwachenden Körper. Mir war auf einmal so leicht zumute, als sei die Sonne hinter einer Wolke hervorgetreten. Er lächelte, und ich unterdrückte den Drang, sein Lächeln zu erwidern.
»Du bist noch schöner als in meiner Erinnerung«, sagte er leise. Es war eine Feststellung, keine Frage oder eine
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