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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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zu rühren. Er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt wach war.
    »Ihr Menschen erfindet alle möglichen Schwierigkeiten, bloß um eure Angst zu verbergen! In Wirklichkeit existieren viele dieser Probleme gar nicht! Während also ein ›normaler‹ Mann sich gar nicht vorhandene Schwierigkeiten einbildet und dann versagt, wird ein furchtloser Mann an diesen Hindernissen vorübergehen, ohne sie überhaupt zu bemerken!«
    Die Pause dauerte diesmal noch länger. Dann bemerkte die andere Stimme in ruhigem Tonfall: »Es gibt keinen wirklich furchtlosen Mann!«
    »Vielleicht nicht« , erwiderte die raue Stimme, »aber dieser hier passt.«
    »Wozu?«
    »Zu allem. Zu all den unwichtigen Einzelheiten, die ihr Menschen erfunden habt. Selbst das Muttermal passt.«
    »Ach, komm! Geht das nicht ein wenig zu weit?«
    »Selbst der Zeitpunkt stimmt! Es ist doch das Zeitalter des Unsterblichen, oder?«
    »Ja, seit etwa vierhundert Jahren. Und es wird noch lange Zeit andauern. Du weißt sehr wohl, dass Kaschtschej wirklich nahezu unsterblich ist.«
    »Untot!«
    »Na gut, untot. Auf jeden Fall wird er nicht einfach Platz machen. Wir dürften Zeit genug haben, jemand Besseres zu finden als diesen Jungen.«
    »Ich sage dir, er ist der Richtige! Ich spüre es. Vertrau dem Alten!«
    |84|
»Aber seine Wunden...«
    »Hol ihn einfach nur zurück, Nikita! Überlasse mir den Rest.«
    Nikita.
Während er sich noch bemühte, sich zu erinnern, wo er diesen Namen schon einmal gehört hatte, sank Iwan in einen todesähnlichen Schlaf zurück.
     
    Nikita. Nikifor.
Der alte Mann mit dem weißen Haar und dem ernsten Blick. Iwan hatte die nähere Bedeutung des Gesprächs, das er verschwommen mit angehört hatte, während er, halb wachend, halb träumend, an der Schwelle des Todes darum kämpfte, zurück zu den Lebenden zu gelangen, nie erfahren.
    Er schüttelte bedächtig den Kopf, als er langsam aus seinen Erinnerungen auftauchte. Im letzten Schein des untergehenden Mondes erregte etwas seine Aufmerksamkeit. Er bückte sich und pflückte vorsichtig die kleine Blume aus dem dichten Grasteppich. Es war eine gewöhnliche und dennoch eigenartige Blume mit einem Blütenstand, der wie ein winziger Stern in Purpur und Gelb aus dem saftigen Grün der Wiese herausleuchtete. Das Purpur kam von den oberen Blättern, die die darunterliegenden zartgelben Blüten liebevoll zu schützen schienen. Für das ungeübte Auge wirkte es, als wüchsen zwei verschiedene Arten von Blüten am gleichen Stängel. Um diese Dualität zu beschreiben, hatten die Menschen der Blume einen Doppelnamen verliehen:
Iwanund-Marja
.
    »Junge, du pflückst Blumen?«, fragte der Wolf. »Ich dachte, wir hätten es eilig.«
    Iwan senkte die Augen. »Ich
..
.
«, fing er an.
    »Oh, ich wollte dich nicht stören!« Der Wolf streckte sich und grollte dabei leise. »Es sind ja noch ein paar Stunden bis zum Sonnenaufgang. Jede Menge Zeit. Ich bin froh, dass wir wenigstens keine Schwierigkeiten hatten, hierherzukommen.«
    |85| Iwan steckte die Blume in seine Hemdtasche. »War Gleb deshalb so erstaunt, als er meinen Namen hörte?«
    Der Wolf musterte ihn einen Augenblick lang. »Iwan und Marja sind die beiden häufigsten Namen in dieser Gegend.
Deshalb
haben die Dorfbewohner diese Blume so genannt, das weißt du genauso gut wie ich!«
    »Ja«, sagte Iwan. »Aber was ist, wenn
..
.
«
    »Wenn was?«
    Iwan seufzte. »Glaubst du nicht an Schicksal?«, fragte er.
    Es erklang ein Laut, den ein ungeübtes Ohr für ein Niesen halten mochte, während der Wolf sich rasch abwandte. Seine Schnauze wies nicht die Ausdrucksfähigkeit eines menschlichen Gesichts auf, und dennoch konnte man unschwer erkennen, wenn er zornig knurrte oder wenn sich seine dunklen Lippen zu einem Lächeln verzogen.
    »Habe ich etwas Lustiges gesagt?«, fragte ihn Iwan unschuldig.
    »Nein!«, grollte der Wolf. »Ich lache mich nur gerade selbst aus. Nach all diesen Jahrhunderten war ich immer noch dumm genug, einem närrischen Menschenjungen eine ernste Aufgabe anzutragen.«
    Iwan musterte ihn ein Weilchen. »Du glaubst also, ich werde mich in sie verlieben?«, fragte er sodann.
    Der Wolf zuckte die mächtigen Schultern. »Das passiert allen«, sagte er. »Du hast es doch selbst gehört. Gleb hat versucht, es dir klarzumachen, aber du hast natürlich wieder nicht richtig zugehört.«
    »Aber ich bin nicht verliebt!«, protestierte Iwan. »Es wäre total verrückt, sich in eine Frau zu verlieben, die zur Liebe unfähig ist und

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