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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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Einladung zu einem Gespräch. So blickte ich ihn weiterhin an und spürte, wie sich mein Körper unter seinem Sonnenscheinblick erwärmte. Mir war bewusst, dass ich die Wachen rufen sollte. Mitten in der Nacht befand sich ein Eindringling in meinem Schlafgemach! Und doch konnte ich mir |92| nicht vorstellen, dass dieser harmlos wirkende Junge eine Gefahr darstellte. Nach meinem schrecklichen Albtraum wollte ich diese Ruhe genießen, die er ausstrahlte. Wenigstens einen Augenblick lang. Nicht länger.
    Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nackt unter der Bettdecke lag, und zog sie schnell bis unter das Kinn. Er richtete sich auf und sah sich um. Dann entdeckte er mein Kleid, das ich über die Stuhllehne geworfen hatte. Er nahm es und reichte es mir. Die Geste erschien mir völlig natürlich, wie bei einem Kinderspiel. Ich zog mir das Kleid über den Kopf und stand auf, wobei ich es glattstrich.
    Und dabei kam ich plötzlich wieder zur Besinnung.
    Ich war allein mit einem Mann, der offensichtlich all meine tödlichen Fallen umgangen und mitten in der Nacht mein Schlafgemach betreten hatte.
    »Wie bist du hereingekommen?«, flüsterte ich, und ganze Wellen irgendeiner Macht, die er über mich zu haben schien, schlugen wohlig über mir zusammen.
Es war ein Fehler, heute Abend auszugehen,
dachte ich.
Nun habe ich keine Kraft mehr, ihm zu widerstehen.
    »Ich bin an deinem Turm emporgeklettert«, sagte er schlicht. »Das ist nicht so schwer.«
    Ich musterte ihn von oben bis unten und suchte nach Anzeichen für einen Kampf oder etwas Ähnliches. Wenn er schon nicht in meinen Fallen ums Leben gekommen war, was mir unglaublich genug erschien, sollte er wenigstens arg zerrupft aussehen. Mein Vater und ich hielten die Fallen eigentlich für unüberwindlich.
    An seiner Kleidung vermochte ich nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Klar war nur, dass er sich für die Audienz mit der Tochter des Zaren herausgeputzt hatte. Er trug wohl noch bäuerliche Kleidung, aber doch recht anders als diejenige, die er am vergangenen Nachmittag auf dem Schlossplatz getragen hatte. Das feine Leinenhemd war am Halsausschnitt |93| mit einem kunstvollen roten Muster bestickt. Seine bauschige dunkle Hose und die Lapti an seinen Füßen wirkten neu. Ich sah den kraftvollen Schwung seines Halses, wie er aus der Öffnung des Hemdes ragte, sah die Muskeln an seinen Oberarmen und die breiten Schultern unter dem gebleichten Leinen. Er trug zwar keine sichtbare Waffe, doch sein Körper war schlank und kräftig wie der eines Kriegers.
    Ich verdrängte die Gedanken an seinen Körper. Es war der Situation nicht angemessen.
    »Hör zu«, begann ich, wobei ich versuchte, es so offiziell wie möglich klingen zu lassen. »Ich weiß nicht, wer du bist
..
.
«
    »Ich bin Iwan, der jüngste Sohn des Zaren des Zwölften Königreiches«, antwortete er bereitwillig und lächelte mich strahlend an. »Man nennt mich auch Iwan den Narren.«
    Seinem Lächeln konnte man kaum widerstehen. Ich senkte den Blick, um nicht plötzlich loszukichern. Wie zwei Kinder, die miteinander spielten
...
    »Der Narr«, wiederholte ich. »Wie passend.«
    Namen. Wieso verriet er mir seinen Namen? Wie konnte er mir dieses Band aufzwingen?
    »Nun«, fuhr ich fort, »ich nehme an, du weißt, wer ich bin, Iwan der Narr. Ich gebe dir genau drei Herzschläge, um von hier zu verschwinden. Wenn du dann nicht weg bist
..
.
«
    Ich erwartete, dass er aufspringen oder wenigstens irgendeine Reaktion zeigen würde. Stattdessen fasste er in seine Hemdtasche und zog eine leicht zerdrückte purpurne und gelbe Blume heraus.
    »Die habe ich Euch mitgebracht«, sagte er, und seine Miene war so spitzbübisch wie die eines Fünfjährigen, der seinem Spielkameraden ein Geheimnis verrät.
    Ich sah auf die Blume. Und in meiner Überraschung nahm ich sie aus seiner Hand, bevor mir plötzlich bewusst wurde, was er da mitgebracht hatte.
    |94| Es waren nicht zwei verschiedene Blumen, wie es auf den ersten Blick gewirkt hatte. Sie gehörten zu ein und derselben Pflanze, einer der verbreitetsten, die man in den nahegelegenen Wäldern fand:
Iwan-und-Marja.
    Meine ausgestreckte Hand begann zu zittern, und die Blume fiel zu Boden. Ich sah ihr nicht hinterher.
    Er ebenfalls nicht. Stattdessen blickte er mich mit diesem strahlenden Lächeln an.
    »Glaubt Ihr an das Schicksal, Marja?«, fragte er sanft.
    Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, als glitte mir die Lage aus der Hand. »Wenn du nicht augenblicklich

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