Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
Vom Netzwerk:
freundlich.
    |97| »Das bezweifle ich«, sagte mein Vater gelassen. »Nur ein Unsterblicher kann diese Nadel zerbrechen, und für mich siehst du nicht wie einer aus. Aber gleich werden wir es wissen.« Er hob die Hände.
    Iwan hielt die Nadel so vor sich, dass der Feuerstrahl sie zuerst treffen musste.
    Mein Vater zögerte.
    Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass alles völlig außer Kontrolle geriet.
    Mein Vater senkte die Hände und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir scheint, Junge«, sagte er, »dass du mit Dingen spielst, die du überhaupt nicht verstehst. Warum gibst du die Nadel nicht zurück? Ich fände es überhaupt nicht schön, wenn sie mit deinem Blut verschmiert würde!«
    Er hielt inne und sah Iwan geradewegs in die Augen. Ich wusste, dass er mit diesem Blick die Menschen zu Nervenzusammenbrüchen bringen konnte. Doch Iwan der Narr starrte einfach zurück. Er zeigte keine Regung, und seine Gelassenheit ließ alle Alarmglocken in meinem Geist schrillen. Trotz seiner Jugend, trotz der Weichheit seiner Züge, trotz seiner einfachen Kleidung erschien er mir nun beinahe wie ein ebenbürtiger Gegner.
    Was
war
er?
    »Ich gebe sie zurück«, sagte Iwan nach einer Weile. »Wenn Ihr dafür schwört, das Sonnwendopfer aufzugeben!«
    Meine Stimme kehrte zurück. »Du bist völlig übergeschnappt, Iwan der Narr!«, rief ich.
    »Aber selbstverständlich«, sagte mein Vater in grauenhaft ruhigem Tonfall. »Wenn du es so willst«, wieder hob er die Hände, »dann nehmen wir dir eben die Nadel ab. Beziehungsweise deinem Leichnam.«
    Ich stellte mir vor, ich stünde meinem Vater gegenüber, und duckte mich angsterfüllt vor ihm und seinen Worten. Ich wusste, dass er es ernst meinte.
    |98| Doch Iwan der Narr zeigte immer noch keine Regung. Er wandte sich mir zu und sprach mich so ruhig an, als habe er nichts von alledem vernommen.
    »Ich habe sagen gehört«, begann er, »dass Ihr, Marja Kaschtschejewna, jedem, der um Eure Hand anhält, eine Aufgabe zu lösen gebt.«
    »Um meine Hand anhält?«
    »Ich bitte Euch um Eure Hand, Zarewna Marja«, sagte Iwan feierlich. »Ich bitte Euch darum, mich als Euren Freier zu betrachten und mir eine Aufgabe zu stellen, die ich in Eurem Namen erfüllen kann, um mich so der Ehre würdig zu erweisen, Euch die Meine zu nennen.«
    Ich starrte ihn entgeistert an. Die Regel, dass ein jeder meiner Freier von uns so lange verschont wurde, bis er bei seiner Aufgabe versagt hatte, war nur wenigen bekannt. Mein Vater und ich taten alles, um solche Gerüchte zu unterbinden. Ich wollte nicht noch mehr Freier empfangen, als ich ohnehin schon musste.
    Wie konnte dieser Narr davon erfahren haben? Vielleicht täuschte sein Äußeres? Vielleicht besaß er eine Art von Magie, die der meines Vaters überlegen war?
    Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich hinter diesen unschuldigen Augen, diesem kindlichen Lächeln, dieser beunruhigenden Zärtlichkeit in seinem Blick, als er sich mir zuwandte, eine mächtige Magie verbergen sollte.
    Ich richtete mich auf. »Dann dürftest du auch vernommen haben«, antwortete ich, »dass niemand je lebend zurückgekehrt ist und seine Aufgabe tatsächlich erfüllt hat.«
    »Das ist mir einerlei«, rief er. »Ich werde tun, was Ihr von mir verlangt, Marja, und wenn ich dabei sterbe.«
    »Also gut«, sagte ich. »Wie du weißt, ist in zwölf Tagen Sonnwende. Falls du mir bis dahin vom Wasser des Lebens aus dem Verborgenen Quell bringst, werde ich mir deinen Antrag wohlwollend überlegen.«
    |99| Es fiel mir immer wieder leicht, solche Aufgaben zu erfinden, wenn es nötig war. Doch diese war die beste, die mir je eingefallen war. Von unserem Königreich bis zum Verborgenen Quell zu ziehen, würde Monate dauern. In zwölf Tagen konnte er das niemals vollbringen, und hätte er auch das schnellste aller Pferde dieser Welt, mein Mitternachtsross. Doch selbst wenn er das Wunder vollbringen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein sollte, so müsste er dort den Verborgenen Quell dazu bringen, sich ihm zu enthüllen und ihm wenigstens einen Tropfen seines Wassers zu überlassen. Während der gesamten Geschichte der Menschheit, soweit mein unsterblicher Vater und ich das beurteilen konnten, war so etwas noch nie geschehen. Ich wusste von dem Verborgenen Quell durch meinen Zauberspiegel, doch ansonsten gab es nur wenige Geschöpfe auf dieser Welt, die überhaupt davon gehört hatten. Der Verborgene Quell würde sich ohnehin nur für die Unsterblichen enthüllen,

Weitere Kostenlose Bücher