Die Sonnwendherrin
Baumwipfel hinweg in der Ferne verschwand.
Wieder dieses angenehme Schnurren
...
Er hatte solchen Durst. Könnte er nur einen Tropfen Wasser haben.
Er hob den müden Kopf, aber es war kein Wasser in Sicht. Und die Erzählung lockte ihn, liebkoste ihn, während sie auf den Wogen des tiefen Schnurrens des Katers vorüberglitt
...
Ein anderer Ort, viele Königreiche weiter. Die alte Frau suchte etwas. Aus ihrer Schürzentasche hing eine blutige blonde Haarsträhne.
Warum kehren wir wieder zu dieser Erzählung zurück? Der Mann ist doch tot, oder?
Er wollte um den gefallenen Krieger weinen, doch er hatte keine Tränen mehr.
Kein Wasser.
Die Frau ließ sich im dichten Gras nieder und summte leise vor sich hin. Die Melodie klang vertraut und dennoch fremd. Er hätte schwören können, dass es ein ganz bekanntes Lied war, doch sobald es verklang, konnte er sich nicht mehr daran erinnern.
Ich – erinnere mich – an nichts
...
Die Frau setzte sich plötzlich auf. Das silberhelle Plätschern von Wasser drang durch die Stille des Waldes. Es klang sanft und angenehm, genau wie das Lied der Frau.
Sie sang weiter, während sie durch das hohe Gras auf das Plätschern
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zuschlich. Und da, am seitlichen Hang eines kleinen Hügels, war die Quelle.
Die Frau holte den abgeschlagenen Kopf aus der Tasche und legte ihn vorsichtig ins Gras. Aus der gleichen Tasche nahm sie eine Phiole und füllte sie mit Wasser. Sie bewegte sich vorsichtig, als fürchtete sie sich davor, das Wasser zu berühren. Dann stieß sie einen schrillen Pfiff aus, und der schwere Mörser kollerte aus dem Unterholz des Waldes hervor auf sie zu. Der kopflose Leichnam baumelte über die Seite, so dass die Arme gegen die Außenwand schlugen.
Die alte Frau hob den Leichnam heraus und legte ihn ins Gras. Sie drückte den Kopf sehr sorgfältig auf den Hals, und so wirkte der Schnitt nur noch wie eine bloße Wunde. Mit einer Hand hielt sie den Kopf gegen den Hals gedrückt, und mit der anderen goss sie Wasser aus der Phiole auf die Wunde.
Die Flüssigkeit schäumte auf, als sie die Haut berührte. Der Schaum nahm das Blut in sich auf und verdeckte den Schnitt. Blasen bildeten sich – blütenweiß auf der milchig weißen Haut. Und dann...
...
schnurr, schnurr
...
Der Schnitt war verschwunden. Der Kopf saß auf seinem Hals, ganz so, wie es üblich war. Es gab kein Anzeichen dafür, dass noch vor wenigen Augenblicken Kopf und Körper voneinander getrennt gewesen waren.
Die Frau küsste die Phiole und spritzte erneut Wasser daraus, diesmal auf die Stirn des Leichnams. Ein Seufzen erklang, als das Wasser die Stirn berührte. Und etwas änderte sich. Zuerst konnte er gar nicht sagen, was es war. Der Leichnam war immer noch bleich, aber nicht mehr...
...
er war nicht mehr tot!
Der Mann rührte sich und öffnete die Augen. Und da fing die alte Frau an zu weinen. Die Tränen rannen ihr über das Gesicht, zwischen den Falten hindurch, wie Regen über die Borke eines uralten Baums.
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Sie weinte um den Lebenden, wo sie keine Träne für den Toten geweint hatte.
»Bin ich – eingeschlafen?« , fragte der Mann. Trotz der Heiserkeit ob des frisch geheilten Halses klang die Stimme ebenso jung, wie es sein Aussehen verriet. Er war nicht mehr als ein Junge.
»Du hast zu lange geschlafen, Iljuschenka« , sagte die Frau und nickte. Sie lächelte durch den Tränenschleier hindurch. »Es war an der Zeit, aufzuwachen.«
Mit einem Mal war ihm das Gesicht des Katers ganz nahe. Die smaragdgrünen Augen wirkten nicht mehr verträumt.
»Ich habe genug von dir, Junge«, sagte der Kater. »Ich glaube, du bist reif, in den Abgrund zu springen.«
Er stellte das nicht in Frage. Stattdessen erhob er sich mühsam, seine Glieder waren steif vom stundenlangen Sitzen auf dem harten Boden, und wortlos folgte er dem Kater zu der Stelle, wo der kahle Felsen jenseits des grünen Hügels plötzlich abbrach und einem Abgrund Platz machte.
Er blickte hinab. Dort unten lagen Knochen. Viele Knochen. Er konnte auch gerade noch weit unten die weißen Schädel zwischen den Knochen ausmachen.
Ein kleiner Schwarm Krähen auf nahegelegenen Felsblöcken beäugte ihn erwartungsvoll.
»Mach schon, Junge«, sagte der Kater hinter ihm. »Spring!«
Er tat einen weiteren Schritt nach vorn.
Warum befinde ich mich eigentlich hier?
Wer bin ich?
Er hatte solchen Durst, dass er nicht klar zu denken vermochte.
Wasser.
Bin ich wegen des Wassers hier?
Er wandte sich um und blickte den Kater
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