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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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um die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle wiederzugeben. »Wie hat er das fertiggebracht?«, fragte ich, um einen möglichst ruhigen Tonfall bemüht.
    |135| »Er besaß das Netz.«
    Wieder benötigte ich einen Moment, um seine Worte zu verdauen. Sie wollten nicht in meinen Kopf hinein.
    »Du meinst doch nicht etwa –
das Netz

    Der Rabe zuckte die Achseln. »Ja, du weißt schon, das Netz, das der Leschy in Verwahrung hatte; der einzige Gegenstand auf der Welt, mit dem man mich vollständig hilflos machen und einfangen kann. Und die einzige Art und Weise, auf die er an das Netz gekommen sein kann, ist, dass er es dem Leschy selbst abgenommen hat.«
    »Dem
Leschy
? Wie denn das? Dem alten Kerl kann doch niemand etwas abschwatzen. Nicht einmal mein Vater!«
    »Die einzige Möglichkeit, dem Leschy etwas abzuschwatzen, ist, eine Reihe von Rätseln zu lösen, die angeblich kein Sterblicher lösen kann. Derjenige, der alle löst, kann einen Preis dafür verlangen. Unter diesen Bedingungen ist es dem Leschy nicht gestattet, ihm etwas zu verweigern. Doch man muss ganz genau wissen, was man von ihm verlangt. Und das alles wirft nun zwei Fragen auf: Wie konnte ein Narr alle Rätsel des Leschy lösen, und woher wusste er, was er von ihm verlangen musste? Obgleich, wenn man ihm in die Augen sieht, dann ist da etwas, das mit normaler Logik nicht zu erklären ist.«
    »Unschuld«, sagte ich.
    »Und ein solcher Wille!«, fügte der Rabe hinzu.
    Wir schwiegen und blickten einander an.
    »Verstehst du, was ich meine, Marja?«, fragte der Rabe.
    Ich nickte. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich verwundbar. Verängstigt.
    »Nicht nur, dass er offenbar Leschys Spiel gewann«, fuhr der Rabe fort. »Er wusste auch ganz genau, was er als Preis wollte. Er benötigte meine Hilfe, um in deinen Turm zu gelangen und Kaschtschejs Tod zu stehlen. Jeder andere in seiner Lage hätte sich an Praskowja oder die Diener gewandt, |136| in der Hoffnung, durch die Hintertür eingelassen zu werden.«
    »Das wäre fehlgeschlagen«, warf ich automatisch ein. »Hätte der Junge sich an Praskowja gewandt, wäre er mittlerweile nicht mehr am Leben.«
    »Aber er tat es nicht«, erinnerte mich der Rabe. »Stattdessen machte er sich die Mühe, mich zu fangen. Er wusste genau, wer ich bin. Mit den Fragen ging es anfangs etwas holprig, aber schließlich fand er doch heraus, was genau er mich fragen musste, um die Antworten zu erhalten, die er haben wollte. Verstehst du, Marja?«
    Ich verstand nichts. Ich fühlte mich mittlerweile selbst wie eine Närrin. Aber Worte schienen ohnehin nichts mehr ändern zu können.
    Ich nickte. »Und was will er nun?«, fragte ich.
    »Hat er dir das nicht gesagt?«
    »Nun ja«, das brachte eine andere unerwünschte Erinnerung zurück, »er hat um meine Hand angehalten.«
    Die Augen des Raben blitzten in der Dunkelheit, als er sich mir zuwandte. »Tatsächlich?«
    »Ja.«
    »Was für ein Narr!«
    »Ja«, bestätigte ich ohne jede Überzeugung. »Er macht seinem Spitznamen alle Ehre.«
    »Spitznamen«, überlegte der Rabe laut, »sind manchmal eine solche Last!«
    »Warum, Rabe?«, fragte ich. »Warum hat er so viele Fallen umgangen, so viele unmögliche Taten vollbracht, nur, um sich dann meiner Macht zu unterwerfen?«
    »Vielleicht wurde ihm deine Schönheit zum Verhängnis«, meinte der Rabe.
    Ich zuckte die Achseln. »Möglich«, sagte ich ohne Überzeugung. Ich glaubte genauso wenig wie der Rabe daran. Ich war mir nicht einmal sicher, wer hier Macht über wen hatte. |137| Es gab ein Band zwischen mir und dem Jungen, das irgendwie mit der Blume zu tun hatte, die er mir in meinem Turmgemach schenken wollte.
Iwan-und-Marja.
    Ich sehnte mich nach meiner menschlichen Gestalt. Ich wollte fliehen in die Sicherheit meines Gemachs. Ich wollte mein Gesicht an Praskowjas großen Busen pressen, es dort bergen, wie ich es einst getan hatte, in Tagen, die für immer vorüber waren.
    Ich wollte mich diesen Dingen nicht stellen.
    »Ich habe dem Jungen nichts von der Nadel gesagt, Marja!«, sagte der Rabe mit einem Mal. »Wenn er mich gefragt hätte, wäre es herausgekommen, da ich durch das Netz gebunden war. Aber er hat nicht danach gefragt. Er wusste bereits, wo sie sich befand.«
    Stille legte sich wie eine schwere Decke über uns. Eine Weile saßen wir regungslos da, nur durch die fernen Geräusche des nächtlichen Waldes gestört. Als ich mich bewegte, raschelten meine Federn laut in der Stille.
    Wer
war
dieser Junge? Woher

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