Die Sonnwendherrin
wusste er so viel?
Wer half ihm?
Und warum?
Dann begann der Rabe erneut zu sprechen: »Alles, was er wissen wollte, war, wie man in deinen Turm gelangt, ohne in eine deiner zahlreichen Fallen zu geraten. Die kannte er übrigens auch sehr genau! Und ich habe ihm alles gesagt, Marja, weil ich keine andere Wahl hatte.«
»Mein Vater hat eine Prophezeiung erwähnt«, sagte ich.
»Oh ja.
Die
Prophezeiung.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass eine solche überhaupt existiert«, sagte ich. »Du und mein Vater – ihr habt mir beigebracht, nicht an so etwas zu glauben!«
Der Rabe lachte kehlig. »Ein weiser Rat«, sagte er. »Prophezeiungen als solche sind bloßer Unsinn. Reime, die Leute zu ihrer eigenen Unterhaltung erfinden. Dabei liegt es nur |138| an dem Wortlaut, ob man eine Prophezeiung tatsächlich fürchten muss.«
»Wie das?«
»Die Menschen sind Narren. Sie glauben an Worte. Sie wiederholen diese dummen Reime, tragen sie von Dorf zu Dorf weiter, bis jeder sie ehrfürchtig rezitiert und sie ganz hinten in seinem Gedächtnis verstaut. Und dann folgt das Böse. Machthungrige Menschen hören von diesen Prophezeiungen und sorgen dafür, dass sie sich bewahrheiten. Es gehört nicht viel dazu, dass die einfachen Dorfbewohner ihnen Glauben schenken.«
»Doch wie kann jemand eine solche Prophezeiung Wahrheit werden lassen?«
»Nehmen wir an, die Weissagung erzählt von einem wahren König, der mitten im Winter in Lumpen gehüllt ankommt, das Schwert des Schicksals zieht und damit den alten Baum an der Quelle fällt, um so den Weg für einen neuen Frühling zu bereiten.«
»Und?«
»Und dann entschließt sich jemand, dieses Königreich für sich zu gewinnen. Also sucht er sich einen gutaussehenden Holzfäller, hüllt ihn in Lumpen, gibt ihm ein Schwert, das scharf genug ist, einen Baum zu fällen – und schon ist alles bereit. Jetzt muss er nur noch auftauchen. Die Menschen werden alles andere für ihn besorgen. Sie
wollen
daran glauben!«
»Da bleibt nur noch die Frage nach einem neuen Frühling!«
»Du wärst überrascht«, sagte der Rabe, »was die Menschen ihrem wahren König alles abzunehmen bereit sind!«
»Was genau besagt unsere Prophezeiung?«, wollte ich wissen.
Der Rabe begann die Verse mit tiefer, von Ernst erfüllter Stimme vorzutragen:
|139|
»Kupalos Macht bestimmt die Zeitalter,
doch die Herrschaft des Unsterblichen geht zu Ende,
denn in der Sonnwendnacht kommt der Held der Legende
mit seinem goldenen Pfeil, und er bringt die Wende.
Geführt von magischen weisen Wesen
bedarf er der Waffen nicht,
weil das Feuer in seinen Augen
die Macht des Alten bricht.
Er kommt in der Sonnwendnacht,
bringt Leben der Geopferten,
bringt Tod dem Unsterblichen
und Liebe derjenigen unter dem Bann.«
Ich überlegte. Viel Sinn ergab das nicht.
»Und das ist alles?«, fragte ich ungläubig. »Woher weißt du, was es bedeutet?« »Es ist nur eine Prophezeiung, Marja«, sagte der Rabe in einem Tonfall, als sei ich ein Kind. »Ein paar Verse. Sie haben keine tiefere Bedeutung. Doch man kann sie auf vielerlei Art interpretieren. Da dein Vater darauf besteht, sich als den Unsterblichen zu bezeichnen, und da es viele gibt, die seine Herrschaft enden sehen wollen, haben wir alle nach den entsprechenden Zeichen Ausschau gehalten.«
»Beispielsweise
..
.
?«
»Beispielsweise nach einem Jungen mit unerwarteten Kräften, der zufällig kurz vor der Sonnwende in unser Reich kommt. Und beispielsweise
...
gewissen Zeichen, die sowohl deinem Vater wie auch mir die Frage aufzwingen, wer dieser Bursche wirklich ist.«
»Du kannst ihn wohl kaum als legendären Helden bezeichnen!«
»Das muss er gar nicht sein. Es geht nicht wirklich darum, wer er ist. Es hat mit den Zeichen zu tun, die er trägt.«
»Zeichen?«
|140| Der Rabe seufzte und sträubte seine Federn. Er machte es sich auf dem Ast bequem. »Du solltest uns noch ein wenig Zeit geben, Marja«, sagte er. »Vertrau uns.«
»Ich vertraue euch ja«, wandte ich ein. »Doch vielleicht solltet ihr auch
mir
etwas mehr Vertrauen schenken! Der Junge hat mich schon einmal unvorbereitet erwischt. Es hätte mir geholfen, wenn ich Bescheid gewusst hätte. Woher weißt du zum Beispiel, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen Versen und dem Jungen gibt? Woher willst du wissen, dass es überhaupt um eine Prophezeiung geht? Weshalb glaubst du, dass dieser Junge sich von den anderen Narren unterscheidet, die kommen und um meine Hand anhalten?«
»Diese Verse«,
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