Die Sonnwendherrin
hinterhältigen Wassili noch den dümmlichen Fjodor, sondern Iwan mit seinem sonnigen Wesen bevorzugte. Doch sein älterer Bruder sorgte auf seine schlaue Art dafür, dass sich die Hoffnungen, die der Vater für Iwan hegte, langsam in seine Richtung verlagerten. Er nutzte Iwans Gutmütigkeit und die Liebe zu seinem Vater |124| aus und stachelte den jüngeren Bruder zu den größten Dummheiten an. Der Altersunterschied von sechs Jahren zwischen den beiden ließ Wassili sowohl dem ältlichen Vater wie auch Iwan gegenüber absolut vertrauenswürdig erscheinen.
Wassilis außergewöhnlicher Verstand ersann immer neue komplizierte und scheinbar logische Aufgaben für seinen kleinen Bruder, die dieser in seiner Hilfsbereitschaft willig akzeptierte und die unweigerlich dazu führten, dass er am Ende als Narr dastand. Man musste auch wahrhaftig ein Narr sein, um Wassili nach so vielen Fehlschlägen immer noch zu trauen, dachte ich. Und doch: Jedes Mal, wenn ich Wassili im Spiegel sprechen hörte, hatte ich selbst das Gefühl, ihm Glauben schenken zu müssen.
Ich beobachtete in einer weiteren Szene, wie Iwan auf Wassilis Geheiß zum Marktplatz ging, dort niederkniete und sich den Straßenstaub über den Kopf streute. Wassili hatte seinem jüngsten Bruder weisgemacht, dass dann der Kreuzungsmann käme – eine Gestalt seiner eigenen Erfindung, mit ähnlichen Eigenschaften wie Leschy und die anderen Ursprünglichen – und Iwan drei Wünsche gestatte. Als Iwan verdreckt und trotzig zum Vater gebracht wurde, sah ich, wie er Wassili einen langen Blick zuwarf. Er wurde älter und klüger. Doch der Schaden war bereits angerichtet.
»Genug!«, sagte ich dem Spiegel, holte tief Luft und schüttelte den Eindruck des Jammers ab, dessen Zeugin ich geworden war. Ich hatte den Fehler begangen, mich von meinem Mitgefühl überwältigen zu lassen. Nun musste ich wieder festen Boden unter die Füße bekommen und mich meiner Aufgabe widmen. Ich war noch lange nicht fertig. Und eigentlich war ja auch nichts Schlimmes an dem gewesen, was ich beobachtet hatte. Ein ganz normaler Machtkampf, in dem stets der Beste gewann. Nichts Außergewöhnliches.
|125| »Zeig mir, warum er in unser Königreich kam!«, befahl ich.
Wieder sah ich dasselbe Schloss im Zwölften Königreich, aber der Iwan, den ich nun zu sehen bekam, war um vieles älter – ein Jüngling, noch nicht ganz erwachsen, doch bereits jenem Bild sehr ähnlich, das mein Herz quälte, so dass mich von Kopf bis Fuß ein Schauer überlief.
Was mag ihm so viel Macht über mich geben?,
grübelte ich.
Welch böse Laune des Schicksals zwingt mich, gegen diesen Simpel mit seiner Freundlichkeit und Gutmütigkeit, all jenen Eigenschaften, die ich an einem Mann zu verachten gelernt habe, meine Freiheit verteidigen zu müssen?
In diesem Augenblick war ich auf Wassilis Seite. Doch vermochte ich nicht, meinen Blick abzuwenden.
Iwans Vater sprach voller Sorge mit seinem jüngsten Sohn: »Schwere Zeiten sind in unserem Reich angebrochen, mein Junge. Der böse Zar Kaschtschej vom Neununddreißigsten Königreich verlangt, dass wir ihm jedes Jahr einen Tribut zahlen. Er hat viele Länder weiter im Osten mit Krieg überzogen. Ich habe keine Wahl, als seine Forderung zu erfüllen. Doch das wird uns so schwächen, dass wir uns nicht mehr verteidigen können, sollte sich diese Notwendigkeit ergeben. In solchen Zeiten wäre es vielleicht besser, wenn du hierbliebest!«
Kaschtschej,
dachte ich. Meines Vaters Einfluss reichte also wirklich weit. Stolz machte sich in mir breit, da unser Reich so mächtig war. Von Kupalo und seiner uralten Macht gesegnet.
»Ich muss gehen, Vater«, sagte Iwan mit sanfter Stimme. »Hier bin ich dir keine große Hilfe. Doch in einem der anderen Reiche könnte ich mich vielleicht nützlich machen. Außerdem
..
.
«
Der alte Herr nickte. »Ich weiß, dass es in unserem Reich Tradition ist, einen jungen Mann in die Welt hinauszuschicken, |126| bevor er volljährig wird. Dein Bruder Wassili ritt vor sechs Jahren fort, und vergangenes Jahr kehrte er mit der schönen Zarewna Warwara aus dem Dritten Königreich nach Hause zurück, einer Zarentochter, die er den Fängen des bösen Zaren Kaschtschej entrissen hatte.«
Was für eine Lüge!,
dachte ich und beobachtete weiter. Niemand entriss jemals meinem Vater eine Jungfer. Wassili hatte die wahren Ereignisse einfach wieder zu seinem Vorteil verdreht.
»Ich bin stolz auf Wassili«, fuhr der alte Mann im Spiegel fort. »Er kehrte als
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