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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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Held mit einer schönen Braut zurück, und ich hoffe, er wird als mein Nachfolger ein großer Herrscher für unser Reich.«
    Armer Iwan,
dachte ich und gab so meinem Mitleid schon wieder nach. Aber möglicherweise waren es gerade skrupellose Menschen wie Wassili, aus denen große Herrscher wurden, und nicht diese gutherzigen Burschen wie Iwan, die zu legendären Helden wurden, wenn sie stark, oder zu lächerlichen Narren, wenn sie schwach waren.
    »Was Fjodor betrifft«, sagte der alte Zar im Spiegel, »so ritt er vor zwei Jahren fort und kehrte bald nach Wassili mit leeren Händen zurück. Er hat nicht viel Ruhm erworben, doch wenigstens hatte er eine Chance, viel von der Welt zu sehen und ein paar Fertigkeiten hinzuzugewinnen. Du hingegen, Iwan«, und dabei zögerte der alte Mann und sah seinen Sohn verlegen an, »musst du wirklich gehen?«
    Mir wurde mit einem Mal bewusst, dass ich die Zähne zusammenbiss. Was würde ich machen, sollte mein Vater mir gegenüber solches Misstrauen zeigen? Ich glaube, allein dieser schuldbewusst-verlegene Blick würde mich umbringen. Aber dem Iwan im Spiegel schien das gleich zu sein. Oder verbarg er nur seinen Schmerz besonders geschickt?
    »Ja, ich muss gehen, Vater«, antwortete er mit seinem üblichen Lächeln, das hier so fehl am Platz schien. »Ich will |127| nicht, dass du dich den Rest deines Lebens meinetwegen schämen musst.«
    Sein Lächeln war überwältigend. Es glühte wie ein strahlendes Licht und strömte über seines Vaters Protest hinweg, verschlang ihn, so stetig und unvermeidlich wie die Zeit selbst.
    »Gott sei mit dir, Zarewitsch Iwan«, sagte der alte Mann und segnete ihn mit einer matten Handbewegung. »Ob du recht hast oder nicht, du bist mein Sohn, und ich liebe dich.«
    Ich sah zu, wie der alte Mann mit gebeugtem Haupt in sein Schloss zurückkehrte. Und ich beobachtete, wie Iwan von dannen ritt, ohne einen Blick zurückzuwerfen.
Er braucht ein besseres Pferd,
war mein letzter Gedanke, bevor ich dem Spiegel Einhalt gebot.
    Ich konnte keine Zeit mehr verschwenden. Ich musste unbedingt die Frage klären, wer das Geheimnis um den Tod meines Vaters verraten hatte und wie ich die Nadel zurückgewinnen konnte, bevor sie durch eine Tölpelhaftigkeit Iwans in die Hände eines Feindes gelangte.
    Der Rabe befand sich nicht auf seiner Stange. Nun wurde mir bewusst, dass er bereits seit meiner Rückkehr vom Abenteuer dieser Nacht gefehlt hatte. Er war nirgends zu sehen.
    »Zeig mir den Raben!«, befahl ich meinem Spiegel.

|128| Iwan
    Er rührte sich.
    Um nichts in der Welt vermochte er sich daran zu erinnern, wer er war oder aus welchem Grund er im Gras unter einer riesigen Eiche saß und lauschte
...
    ... den Geschichten, die der Kater ihm schnurrend erzählte...
Die einschmeichelnde Stimme zog ihn immer wieder in ihren Bann. Er verstand keine einzelnen Worte. Nur Bilder ergossen sich in seinen Kopf, und zwar mit einer solchen Intensität, dass es seinem erschöpften Hirn schwerfiel
...
    ... so schwer...
    Eine Frau, alt wie die Bäume ihrer Umgebung, hielt den toten Körper eines Soldaten in ihren gichtigen Armen. Sein abgeschlagener Kopf lag mit aufgerissenen Augen neben dem blutigen Stumpf seines Halses. Unter der Maske des Todes wirkte das Gesicht sehr jung, jungenhaft.
    Die Frau sang und ließ ihre Hände – dunkelhäutig und rau wie Baumrinde – über den regungslos ausgestreckten Gliedern kreisen. Dann ließ sie die Arme sinken und verstummte.
    ...
schnurr, schnurr
...
    Eine pelzige Gestalt drückte sich an ihn. Er kraulte sie geistesabwesend hinterm Ohr.
    Die Frau erhob sich mühsam, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus. Der Pfiff war so laut, dass sich ein Wind erhob, der die Blätter der nahen Baumkronen zum Flattern brachte. Als Antwort grollte ein Donnern durch die Äste, und wenige Augenblicke später landete ein großes, schweres Objekt neben ihr und grub sich tief in den weichen Waldboden.
    |129|
Es war ein riesiger Mörser, doch statt eines Stößels steckte ein Besen in dem großen Gefäß.
    Die Frau bückte sich und hob den toten Körper mit der Vorsicht einer Mutter an, die ihr Kind aus der Wiege hebt. Den abgeschlagenen Kopf stopfte sie in ihre Schürzentasche. Dann ließ sie den Leichnam in den Mörser sinken und sprang anschließend selbst hinein.
    Von drinnen fegte sie mit dem Besen über den Waldboden. Ein Wirbelwind erhob sich und trug den Mörser mit seiner Ladung in die Luft empor, höher und höher, bis er über die

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