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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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an. »Wasser!«, krächzte er mit ausgetrockneter Kehle. Seine Stimme klang |132| so eigenartig, so hässlich, verglichen mit dem Schnurren des Katers.
    »Dort unten gibt es Wasser«, sagte der Kater. »Wenn du hinunterspringst, kannst du so viel Wasser haben, wie du nur willst.«
    Das ergab einen Sinn. Es machte den Sprung zu etwas Wünschenswertem.
    Wieder wandte er sich dem Abgrund zu.
    Aber warum war er überhaupt hierhergekommen? Könnte er sich nur daran erinnern, was ihn hier, auf der Hügelspitze, nach Wasser hatte suchen lassen, wo es doch unten so viel davon gab!
    Benötigte er sonst noch etwas?
    Er dachte an die alte Frau aus der letzten Geschichte. Sie hatte Wasser benutzt, um den Mann wieder ins Leben zu rufen. So viel wenigstens vermochte sein müder Verstand sich ins Gedächtnis zu rufen. Er konnte den Gedanken nicht loswerden, dass an dieser Erzählung irgendetwas wichtig gewesen war. Etwas, das ihm bisher entgangen war.
    Er durfte noch nicht springen!
    »Du verschwendest deine Zeit, Junge«, sagte der Kater. »Nur noch ein Schritt!«
    Seine Hand griff in seine Hemdtasche und suchte darin. Es gab etwas, an das er sich erinnern musste. Seine suchenden Finger berührten etwas, das tief in der Tasche verborgen war, und als er sie herauszog, hielten sie eine Blume umschlossen. Eine fast zur Unkenntlichkeit verwelkte und zerdrückte Blume. Zwei Blüten an einem Stiel, purpur und gelb.
    Er hielt sie dem Kater hin.
    »Iwan-und-Marja?«, fragte dieser. »Was soll ich damit?«
    Iwan-und-Marja.
    Iwan –
    – und Marja.
    Und dann kam die Erinnerung zurück.

|133| Marja
    Im Wald war es stockdunkel. Die kühle Nachtluft hüllte mich ein und brachte den frischen Geruch nasser Erde und das ferne Heulen eines Nachtvogels mit sich. In meiner Taubengestalt war ich eigentlich für einen Flug durch die Dunkelheit nicht gerüstet, aber es war die einzige Gestalt, die ich in dieser Lage hatte annehmen können. Dennoch dachte ich ernsthaft daran, mich in einen Menschen zurückzuverwandeln, als ich plötzlich aus der Dunkelheit heraus den Raben hörte.
    »Bleib auf deinem Ast, Marja«, rief er mir zu. »Ich komme zu dir.«
    In seiner Stimme lag kein Schuldbewusstsein. Sie klang ebenso ruhig wie sonst. Allerdings, nun ja, schuldbewusst hatte ich den Raben ohnehin noch nie erlebt. Vielleicht war seine Stimme zu solchen Modulationen nicht fähig.
    Ich sah zu, wie er sich neben mich setzte und seine Klauen in die glatte, weiße Rinde eines dicken Birkenastes schlug.
    Ich hoffte, er würde etwas sagen, aber er saß lediglich still da. Offensichtlich war er nicht in der Stimmung, ein Gespräch zu beginnen. Ich fühlte mich jedenfalls nicht so wohl wie er.
    »Also«, begann ich zögernd nach einer Verlegenheitspause, »ich hatte geglaubt, du seist mit meinem Vater befreundet. Wie konntest du dann diesem Jungen, diesem Narren, von meines Vaters Tod erzählen?«
    Er schwieg zunächst. Dann sagte er ganz ruhig: »Es gibt Dinge, die du nicht verstehst, Marja.«
    |134| »Dann solltest du zumindest versuchen, sie mir zu erklären!« Ich vermochte meinen Zorn kaum zu beherrschen. Und dennoch empfand ich tief im Inneren etwas ganz anderes. Ich hatte das Gefühl,
ich
müsse mich für etwas rechtfertigen, und nicht der Rabe.
    Wieder entstand eine Pause. Und erneut schwankte die Stimme des Raben nicht. »Er ist kein gewöhnlicher Jüngling, Marja. Und ganz gewiss ist er kein Narr. Ich weiß, dass auch du das fühlst.«
    »Wage es nicht, mir etwas über meine eigenen Gefühle zu erzählen! Ich habe keine!«, schrie ich. Danach zwang ich mich mit großer Mühe, zu schweigen.
    »Du befindest dich in größerer Gefahr, als du ahnst, Marja«, fuhr der Rabe fort. »Und das wiederum bringt uns alle in Gefahr.«
    »Und das ist wohl der Grund dafür, dem Jüngling zu helfen, indem du ihm verrätst, wie er des Nachts in mein Gemach kommt!«
    »Ich hatte keine andere Wahl, Marja. Er fing mich ein und verlangte es – um den Preis meines Lebens!«
    Ich starrte ihn entgeistert an. Der Rabe war einer der Ursprünglichen, ein Unbesiegbarer! Die Unsterblichen hörten auf seinen Rat.
Niemand
vermochte den Raben zu fangen und ihn zu etwas zu zwingen!
    »Er – fing – dich – ein?«
    Der Rabe sah mir geradewegs in die Augen. Sein Ausdruck war mir ein Rätsel. »Ich sagte dir doch: Er ist kein gewöhnlicher Jüngling, Marja. Er hatte mich ganz und gar in seiner Gewalt.«
    Ich öffnete den Mund, doch nichts kam heraus. Die Kehle einer Taube war zu schwach,

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