Die Sonnwendherrin
Kopf, als lausche er nicht, sondern beobachte Ereignisse, die sich vor ihm abspielten. Nein, es war kein Beobachten – er spielte sie nach. Er
erlebte
sie durch das leise Schnurren, mit dem der Kater erzählte.
Der Duft des abendlich feuchten Grases zog ihm in die Nase. Er befand sich nicht mehr auf der Hügelspitze unter der riesigen Eiche. Er stand wohl der Eiche gegenüber,
aber diese Eiche war jetzt knorrig und ragte über einem Weg auf, der geradewegs auf die Schlossmauer zuführte.
Auf den ersten Blick schien keine Gefahr zu drohen. Man konnte einfach weitergehen, ohne stehen bleiben zu müssen.
Aber da war ein Spinnennetz, das sich quer über den Pfad zog. Die tödliche Falle, die den Weg zum Turm der Sonnwendherrin bewachte. Falls man das Netz durchbrach, war man verloren. Man würde den Verstand verlieren und das Schloss niemals erreichen.
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Stattdessen würde man ins Moor hinausgehen und in dessen unergründlichen Tiefen umkommen.
Er blieb stehen und sah sich das Netz genau an. Es war schwer zu sehen, wo es an den Zweigen der knorrigen Eiche befestigt war. Er wusste, dass er die richtige Stelle finden musste. Die Stelle, an welcher der eine Faden hoch in die mächtige Baumkrone hinauflief, jener Faden, der das gesamte Netz aufzulösen vermochte.
Er sah noch genauer hin. Dort! Das Auge fand den einen Faden, der ganz gerade verlief. Der keine anderen Fäden kreuzte. Und er schimmerte nicht seidig wie die anderen.
Er musste nur daran ziehen. Falls er recht hatte.
Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Er streckte die Hand aus...
|122| Marja
Ich sah zu, wie Iwan im Spiegel die Hand ausstreckte und an dem einzelnen Faden zog, der nicht wie die anderen glitzerte. Ein Laut wie ein Seufzer ertönte, das Netz löste sich auf und verschwand wie dünner Rauch, der von einer leichten Nachtbrise verweht wird.
Ich trat vom Spiegel zurück. Woher hatte dieser Junge erfahren, wie man mein Netz auflöst? Mein Vater und ich hatten einen Monat lang gebraucht, um es dort anzubringen! Eigentlich hätte niemand wissen dürfen, wie man es wieder entfernte. Vielleicht war es besser, wenn ich mehr über ihn erfuhr, und zwar von Anfang an.
»Berichte mir von Iwans früherem Leben«, befahl ich dem Spiegel.
Die Dunstwolken zerstreuten sich und enthüllten mir einen verängstigten kleinen Jungen, der sich an den dünnen Zweig eines Apfelbaumes klammerte. Das Gesicht des Jungen war schmal und von Sommersprossen übersät, doch seine Augen waren unverkennbar – blau wie Kornblumen.
Zwei größere Jungen standen lachend unter ihm und schüttelten den noch jungen Baum.
»Mach schon, Iwan!«, rief der Ältere. »Hol uns den Apfel dort drüben!«
»Wird er wirklich unserem Vater die Jugend zurückgeben, Wassili?«, flüsterte der andere Junge seinem Bruder zweifelnd zu.
»Natürlich nicht, Fjodor, du Idiot!«, zischelte Wassili zurück und rüttelte noch stärker an dem Baum.
|123| »Ich kann den Apfel nicht erreichen, Brüder!«, rief Iwan von oben herab. »Der Baum versucht mich abzuschütteln!«
»Er will eben nicht, dass du den Apfel bekommst! Glaubst du, es sei so leicht, unseres Vaters Jugend zurückzubekommen?«, antwortete Wassili und unterdrückte gerade noch ein schmutziges Lachen.
»Ist schon gut!«, schrie Iwan, und im Spiegel bemerkte ich, wie ihm eine Träne über das blasse, angestrengte Gesicht rann.
Ich sah zu, wie die Bilder einander jagten, und war so in sie vertieft, dass ich ganz vergaß, dem Spiegel Einhalt zu gebieten oder die traurige Geschichte abzukürzen. Ich beobachtete, wie der kleine Iwan vom Baum stürzte, gerade als er den Apfel an seinem weit entfernten Ästchen ergreifen konnte. Ich sah, wie ihn seine Brüder hämisch beobachteten, als er auf sie zukroch, das Gesicht mit Tränen und Blut aus seiner Nase verschmiert. Wassili schaute ihm mit kalter Befriedigung zu, während Fjodor ein wenig besorgt wirkte. Ich sah, wie sie ihrem Vater, dem Zaren, Bericht erstatteten, und zwar so verdreht, dass der kleine Zarewitsch Iwan wie ein Idiot wirken musste, der sich mit einem Mal eingebildet hatte, dass ein Apfel aus dem Garten ihren Vater wieder jung machen würde. Und ich sah noch viele ähnliche Ereignisse, die Iwan schließlich den Namen »Iwan der Narr« einbrachten.
Ich bewunderte die bösartige Schlauheit des Zarewitsch Wassili, der bedächtig und wohlüberlegt seine Fallen auslegte. Es war offensichtlich, dass der verwitwete Zar unter seinen drei Söhnen weder den
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