Die Sonnwendherrin
behauptete der Rabe, »sind beinahe genauso alt wie die Sonnwendfeier. Natürlich können wir nichts mit Sicherheit sagen, aber wir sind nicht die Einzigen, die diese Sache ernst nehmen. Es gibt viele dort draußen, die es gern sähen, wenn sich die Prophezeiung erfüllen würde. Und als dieser Junge auftauchte
..
.
«
»Woher weißt du denn, dass er derjenige ist, den wir fürchten müssen?«
»Er hat ein Muttermal auf der Schulter«, bemerkte der Rabe. »Es sieht wie ein goldener Pfeil aus.«
»Ein pfeilförmiges Muttermal?« Ich sah ihn entgeistert an. »Ich habe mit fünf Jahren aufgehört, an so etwas zu glauben! Das muss ein Trick sein! Wasser und Seife können das beseitigen. Komm schon, Rabe. An diese Möglichkeit musst du doch gedacht haben!«
»Natürlich habe ich daran gedacht! Du übersiehst das Wesentliche! Es hat nichts mit dem Jungen selbst zu tun. Es geht um jene, die hinter ihm stehen und die Herrschaft deines Vaters stürzen wollen. Und ob es um Magie geht oder lediglich um einen Trick: Wir müssen etwas dagegen unternehmen.«
»Wie denn?«
|141| Er schwieg einen Augenblick lang. »Indem wir in Erfahrung bringen, womit wir es zu tun haben. Wer unser Feind ist.«
»Nur ein Junge. Vielleicht ein talentierter, aber sicher kein Held. Warum glaubst du, dass mehr an dieser Sache ist?«
»Nun, vielleicht ist er nicht mehr als ein Junge«, sagte der Rabe leise. »Aber er hat etwas an sich
...
Hast du seine Augen bemerkt, Marja?«
Seine Augen. Kornblumen an einem strahlenden Sommertag. Der bloße Gedanke erwärmte mich.
»Es ist nicht leicht, einen Jungen zu finden, der so perfekt zu der Prophezeiung passt.
Er bedarf der Waffen nicht, weil das Feuer in seinen Augen die Macht des Alten bricht.
Denk darüber nach.«
Das tat ich. Diese Zeilen passten gut zu ihm. Dennoch, wenn jemand von »Feuer in den Augen« sprach, das als Waffe gebraucht werden kann, meinte er damit für gewöhnlich etwas anderes. Beispielsweise das kalte Höllenfeuer in den Augen meines Vaters. Mit einem einzigen Blick vermochte er seine Feinde zu vernichten.
»Eine Prophezeiung muss doch aber ganz genau zutreffen, oder? Nicht nur ungefähr. Ihr zufolge kommt er in der Sonnwendnacht. Wie es scheint, ist dein Held etwas früh dran.«
Der Rabe blickte mich nachdenklich an. »Welche Aufgabe hast du ihm gestellt, Marja?«, fragte er dann.
»Den Verborgenen Quell zu finden und mir bis zur Sonnwende vom Wasser des Lebens zu bringen.«
»Dann hat er fast zwei Wochen Zeit. Und wieso glaubst du, er wird das nicht erfüllen können?«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Wenn du das wirklich wissen willst, dann hör zu.« Ich bemühte mich, so ruhig zu sprechen, als beantwortete ich |142| eine ernsthafte Frage und nicht eine Scherzfrage wie die seine. »Man benötigt mindestens sechs Monde, um von hier aus zum Verborgenen Quell zu wandern und zurück. Wenn er ein sehr gutes Ross hat, kann er es vielleicht in drei Monden schaffen. Außerdem nennt man den Quell nicht umsonst den ›Verborgenen‹. Er zeigt sich nur einem Unsterblichen, der das richtige Lied kennt! Doch ein Unsterblicher kann sein Wasser nicht berühren! Glaube mir, in den letzten tausend Jahren hat nur die Baba Jaga das Wasser einmal benutzt, um einen toten Krieger ins Leben zurückzurufen, der ihr gefiel. Soviel ich weiß, hat sie alles Wasser aufgebraucht, das sie mitnahm, und niemand, weder sterblich noch unsterblich, hat sie jemals wieder dazu bringen können, den Quell ein zweites Mal aufzusuchen. Also wird unser magischer Held entweder zu spät kommen oder mit leeren Händen, was in jedem Fall zu seinem Tod führen wird. Dem Gesetz entsprechend muss jeder sterben, der meine Aufgabe nicht erfüllt.«
Der Rabe nickte. »Um deine Hand anzuhalten, war dumm von ihm«, stimmte er mir zu. »Vielleicht gibt uns das den Vorteil, den wir benötigen. Aber natürlich geht er nicht zu Fuß. Und er reitet auch keineswegs auf einem Pferd.«
»Selbstverständlich nicht! Er hat ein magisches Reittier, ja? Vielleicht Smej Gorynytsch, die Feuerschlange? Oder hat Solowej-Rasbojnik, der Räubervogel, aus reiner Herzensgüte beschlossen, ihm zu helfen?«
Der Rabe richtete sich auf und breitete die Flügel aus. »Warum fliegst du nicht heim und fragst deinen Spiegel, Marja?«, forderte er mich auf. »Du weißt ja, dass dir der Spiegel immer die Wahrheit zeigen wird. Also frage ihn.«
Mit einem Mal fühlte ich mich sehr müde. Ich wollte nicht mehr an den Jungen denken, an seine Augen,
Weitere Kostenlose Bücher