Die Sonnwendherrin
an sein Muttermal, welche Form auch immer es haben mochte, und an die magischen, weisen Wesen, die ihm halfen. Ich hatte |143| ihm eine gute Aufgabe gestellt. Mit Recht konnte man annehmen, dass er sterben würde. Und ich, die Sonnwendherrin, hatte anderes zu tun, nicht zuletzt, wieder aus diesem Wald hinauszufliegen, ohne mich an irgendeinem ungesehenen Ast aufzuspießen. Tauben sind für Nachtflüge nicht geeignet.
»Ich fliege heim«, sagte ich. »Möglich, dass ich mit meinem Spiegel spreche, falls ich die Zeit dazu finde. Aber ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken.«
»Vielleicht«, sagte der Rabe. »Vielleicht.«
Ich flatterte mit meinen Taubenflügeln, schwang mich in die Luft und flog langsam zurück durch das Dickicht von Ästen und Zweigen. Zurück zu meinem Turm im Schloss des Zaren.
|144| Iwan
Der Wolf wartete an der Hecke. Ein voller Wassereimer stand neben ihm.
Iwan fragte nicht lange. Er stolperte auf den Eimer zu, ließ sich auf alle viere fallen und trank, so viel er nur konnte. Dann sank er erschöpft neben dem Wolf zu Boden.
»Und?«, fragte der Wolf nach einer Weile.
»Die Baba Jaga«, sagte Iwan. »Sie kann schnell genug dorthinkommen. Außerdem kennt sie das Lied, das den Quell dazu bringt, sich zu enthüllen. Und vielleicht hat sie sogar noch eine halbe Phiole mit dem Wasser irgendwo versteckt.«
Der Wolf schien sich zu versteifen, doch Iwan war zu geschwächt, um es zu bemerken.
»Und sie wäre bestimmt so freundlich, es dir zu geben, wenn du sie nett darum bittest«, setzte der Wolf Iwans Satz fort.
Der reagierte erst gar nicht auf den bissig-ironischen Unterton. Er war froh, dass der Wolf wieder ganz er selbst war. Und noch schöner war es, am Leben geblieben zu sein. Nein, ihm war wirklich nicht nach Streiten zumute.
»Du warst drei Tage lang weg«, erklärte ihm der Wolf. »Ich hätte nicht geglaubt, dass du dich so lange hältst, Junge!«
»Ich auch nicht«, gab Iwan zu. »Aber trotzdem danke schön!«
Er langte hinüber und hob sich den Eimer an die Lippen. Er spürte, wie das Wasser in seinem Bauch schwappte. Dennoch |145| hatte er nach wie vor Durst. Es war ein Gefühl, als müsse er den Rest seines Lebens Durst leiden.
»Trink nicht alles auf einmal!«, mahnte der Wolf. »Du wirst platzen.«
Iwan stellte den Eimer bedauernd ab.
»Ich schlage vor, du benutzt den Rest, um dich damit zu waschen«, meinte der Wolf. »Und dann stehen wir auf und gehen. Wir haben nicht viel Zeit.«
Es wurde immer schwieriger, voranzukommen. Das Unterholz wuchs so dicht, dass es unmöglich war, in diesem unheimlichen Zwielicht zu sehen, wohin man ging. Klebrige Äste griffen nach der Kleidung, als wollten sie den Eindringling am Weitergehen hindern. Jeder Schritt durch den von Moos bedeckten Matsch war eine Qual.
»Bist du sicher, dass sie hier wohnt?«, fragte Iwan in das Dickicht vor ihm hinein.
Ein Grollen erklang, dann ein unterdrückter Fluch, bevor er endlich eine Antwort bekam: »Dort oben wird es lichter.« Es klang, als habe der Wolf das Maul voller Blätter.
Iwan hielt es für besser, nicht weiter nachzufragen.
Nach einer Weile begann der Waldboden leicht anzusteigen, der Untergrund wurde trockener. Ihre Schritte erzeugten nun nicht mehr dieses satte Schmatzgeräusch wie zuvor. Der Bewuchs von Eschengehölz, Himbeersträuchern und verkrüppelten Tannen machte einem gesünder wirkenden Gewirr von jungen Birken und Haselnusssträuchern Platz. Durch die unheimliche Düsternis des Waldes drangen gelbe Farbtöne und erinnerten Iwan daran, dass irgendwo die Welt unter strahlendem Nachmittagssonnenschein lag.
Er entdeckte das Purpur und Gelb einer Iwan-und-Marja-Blume und bückte sich, um sie zu pflücken. Nach dem Erlebnis bei Bajun, dem Klatschkater, hatte er sich geschworen, immer eine bei sich zu tragen.
|146| Erst, als er sich wieder aufrichtete, bemerkte er die Lichtung, die sich heimlich angeschlichen und um sie herum geöffnet zu haben schien.
Ein seltsames Objekt dominierte die Mitte der Lichtung – wie ein nobler Bojar im Mittelpunkt eines dörflichen Marktplatzes. Es war eigentlich ein Haus, eine aus ungleichmäßig behauenen Bohlen erbaute Isba. Sie hatte ein strohgedecktes Dach, dessen gekreuzte Giebelbalken mit kunstvollen Bildern eines Raben und eines Wolfs verziert waren, so meisterhaft geschnitzt, dass sie die Eindringlinge aufmerksam zu mustern schienen. Sie verfügte auch über ein kleines und ziemlich trübes Fenster, das aussah, als müsse es
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