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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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wie lange?... nach Osten reitet... ein Jahr, oder? Falls man unterwegs nicht aufgehalten wird.
    Das erste Hindernis stellte sich ihm in den Weg, und zwar in Form einer Kreuzung, in deren Mitte man einen großen Felsblock aufgestellt hatte. Der Spiegel zeigte uns folgsam die Inschrift auf dem Stein, die in einer runenartigen Schrift eingemeißelt war. Sie lautete:
    »Reitet geradeaus, und Euer Reittier und Ihr selbst werdet verhungern.
    Reitet nach rechts, und Ihr verliert Euer Reittier.
    Reitet nach links, und Ihr verliert Euer Leben.
    Wendet Euch zurück und gehet in Frieden.«
    So wie die Schrift aussah, musste sie vor sehr langer Zeit in den Stein gehauen worden sein.
    Ich ertappte mich dabei, wie ich mir wünschte, er würde umkehren. Seine Suche war doch wirklich diese Risiken nicht wert. Doch Iwan wollte offensichtlich keineswegs aufgeben. Logisch war in diesem Fall, sich nach rechts zu wenden, aber obwohl sein Pferd ohnehin absolut nutzlos erschien, zögerte Iwan lange, bevor er diese Entscheidung traf. Einen Augenblick lang wollte er sogar geradeaus weiterreiten, doch vernünftigerweise entschied er sich dagegen. Er wandte sich also nach rechts und ritt den immer stärker überwachsenen Pfad entlang tiefer in den Wald hinein. Offensichtlich waren hier noch nicht viele fahrende Ritter |166| durchgekommen. Schließlich endete der Pfad auf einer Lichtung, auf der unzählige Pferdeknochen lagen, manche davon mit Sicherheit Jahre alt.
    Wir sahen, wie Iwan abstieg und um die Lichtung herumschritt, um die Stelle zu suchen, wo der Pfad auf der anderen Seite weiterführte. Plötzlich geriet sein Pferd in Panik und scheute vor etwas, das wie ein grauer Blitz aus dem Wald herausschoss und mit einem mächtigen Satz geradewegs auf den Rücken des Pferdes sprang. Ein großes graues Tier. Es grollte, biss nach der Kehle des Pferdes, und nach wenigen Sekunden wälzte sich Iwans unglückliches Reittier auf dem Rücken, schlug noch einige Male aus und lag dann still.
    Das Tier hob den Kopf und blickte Iwan an, der mit entsetzter Miene dastand. Der Spiegel schwenkte herum, und wir sahen die blutverschmierte Schnauze.
    Ich hörte, wie mein Vater keuchte, als er es erkannte, und auch ich schnappte einen Augenblick nach Luft.
    »Der Graue Wolf«, flüsterte mein Vater.
    Ein paar verschüttete Gedanken regten sich in meinem Hinterkopf. Der Graue Wolf war möglicherweise das älteste lebende Geschöpf. Er gehörte zu den Ursprünglichen, wie Bajun, der Klatschkater. Ich hatte Gerüchte vernommen, er habe sogar die Schöpfung der Welt erlebt. Dennoch war kaum etwas über ihn bekannt. Angeblich war ihm eine starke Magie zu eigen, über deren Natur allerdings nichts bekannt war, doch sogar die Unsterblichen fürchteten sie. Alles, was ich wusste, war, dass man dem Grauen Wolf besser aus dem Weg ging.
    Iwan hatte davon anscheinend noch nie gehört. Er zeigte keinerlei Ehrfurcht beim Anblick des mächtigen Wesens, nein, er griff tatsächlich nach seinem Schwert und hätte es gezogen, wäre er nicht durch einen Laut des Wolfs unterbrochen worden, der sich mehr oder weniger wie menschliches Lachen anhörte.
    |167| »Leg das Ding weg, mein Junge!«, sagte der Wolf. »Du wirst dir nur selbst wehtun.«
    »Warum hast du mein Pferd getötet?«, fragte Iwan.
    Ich hielt die Luft an. Allein um zu hören, wie jemand so mit dem Grauen Wolf sprach, lohnte es sich, die ganze Geschichte ansehen zu müssen. Mich fror bei dem Gedanken daran, wie es Iwan ergehen würde, nachdem er den Wolf so respektlos angesprochen hatte.
    Doch der war anscheinend guter Laune und vergab ihm.
    »Hast du die Inschrift nicht gelesen?«, fragte der Wolf, während er sehnsüchtige Blicke auf seine Mahlzeit warf. »Erzähl mir bitte nicht, dass dir deine Eltern niemals das Lesen beigebracht haben! Die letzten fünf Ritter, die hierherkamen, waren auch solche Fälle.«
    »Natürlich habe ich die Zeilen gelesen!«, rief Iwan. »Ich kann so gut wie jeder andere lesen.«
    »Möglicherweise kannst du dann links und rechts nicht unterscheiden?«, fuhr der Wolf ungeduldig fort.
    »Du meinst
..
.
«, flüsterte Iwan. »
Reitet nach rechts, und Ihr verliert Euer Reittier.
Hast
du
das in den Stein gehauen?«
    »Den Sternen sei Dank!«, sagte der Wolf. »Er hat es begriffen.«
    »Aber
..
.
«
    »Das Pferd war dein Reittier, oder?« Der Wolf schien allmählich die Geduld zu verlieren. An Iwans Stelle würde ich jetzt schnell das Weite suchen, dachte ich. Aber er war nicht umsonst als Narr

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