Die Sonnwendherrin
sich. Sie beugte sich zu Iwan herüber. »Er ist alles, was du auf dieser Welt hast, Junge?«, fragte sie. »Was für ein Ausgestoßener bist du denn?«
Ihr direkter Blick war zermürbend. Iwan trat von einem Fuß auf den anderen und bemühte sich, gelassen zu erscheinen. So hatte er noch nie über den Wolf gesprochen, aber ihm war plötzlich klar geworden, dass jedes Wort stimmte. Der Wolf war sein einziger Freund auf der ganzen Welt. Er konnte nicht zulassen, dass diese alte Frau, die eine so eigenartige Macht über den Wolf zu besitzen schien, seinen Freund misshandelte.
Es kam ihm in den Sinn, dass er – so mächtig, wie sie anscheinend war – gar keine Möglichkeit hatte, sie aufzuhalten, aber diesen Gedanken verdrängte er. In der augenblicklichen Lage halfen ihm solche Dinge nicht weiter.
»Es ist mein Fehler, dass wir hierherkamen, altes Mütterchen«, sagte er. »Ich habe alles verdorben. Der Wolf versprach, mir aus der Patsche zu helfen. Er wäre nicht hier, hätte ich mich nicht so dumm angestellt. Wenn du also jemanden bestrafen musst, dann mich!«
Baba Jaga seufzte. »Du musst eine wirkliche Macht besitzen, Junge«, sagte sie, »dass du so in den Menschen das Gute erweckst. Wie könnte ich sonst das Ungeheuer verschonen, anstatt euch beide zu vernichten, wie ich es eigentlich tun sollte?«
Der Wolf blickte sie stumm an. Seine Anspannung zeigte sich nur in den unter dem grauen Fell verhärteten Muskeln.
»Jetzt weiß ich jedenfalls, warum dein treuer Begleiter dich allein ließ, um dich meinem Zorn auszusetzen«, sagte Baba Jaga. »Und du bist wahrhaftig tapfer, wenn du mir anstelle dieser unwürdigen Kreatur gegenübertrittst. Vielleicht ist doch noch ein Funken Gutes in ihm, dass er solche Treue hervorrufen kann.«
Ihr Blick verlor etwas an Schärfe. Iwan rührte sich ein wenig, |163| als hätten sich die Fesseln gelockert, die ihn an diesem Fleck festhielten.
»Vielleicht«, warf er ein, »könnten wir einfach zusammensitzen und etwas von dem Eintopf essen? Es ist genug für alle da.«
Baba Jaga sah ihn an. Iwan unterdrückte den Impuls, sich unter diesem Blick zu ducken. Doch nach einer Weile wurden ihre Augen sanfter, und sie schob ihr Kinn nicht mehr so energisch vor.
»Manchmal, mein Junge, ist es schwierig zu unterscheiden, ob du blöde bist oder klug«, sagte sie. »Was auch immer, auf jeden Fall bist du etwas Besonderes.«
Sie wandte sich um und ging zur Hütte zurück. Iwan und der Wolf tauschten einen Blick. Der Wolf starrte ihn betont ausdruckslos an. Nach einem kurzen Zögern folgte Iwan der alten Frau. Und bald danach hörte er das Tappen der großen Pfoten hinter sich im Gras. Sie schienen sich ihm anzuschließen.
|164| Marja
»Zeige mir Iwan!«, befahl ich dem Spiegel.
Der graue Schleier auf der Oberfläche des Spiegels löste sich auf und enthüllte eine Gestalt, die auf der Suche nach irgendetwas durch dichtes Gras schlich. Es war schwer zu sagen, ob sie sich in der Umgebung des Verborgenen Quells befand.
»Was glaubst du?«, fragte mein Vater.
»Ein ganz normaler Narr«, sagte ich. Wenn man ihn so sah, wirkte der Junge tatsächlich wie ein gewöhnlicher Dorftrottel. Vielleicht trübte dieses Geschwätz über die Prophezeiung unseren Blick für die Wirklichkeit?
»Möglich, dass du recht hast«, sagte mein Vater zweifelnd. »Aber der Leschy und das Netz waren keine Zufälle. Irgendjemand hilft ihm.«
»Der Vater irgendeiner unglücklichen Maid, die du entführt hast?«, fragte ich.
»Warum rätseln wir herum?«, meinte mein Vater. »Sehen wir es uns einfach an!«
»Gut.« Ich wandte mich dem Spiegel zu. »Fahre fort, uns Iwans Geschichte zu zeigen«, ordnete ich an.
Wieder erhellte sich die Oberfläche des Spiegels. Er nahm die Geschichte an jenem Punkt auf, an welchem ich sie zuletzt abgebrochen hatte, als Iwan nämlich sein heimisches Königreich verließ. Sein Pferd war eine Katastrophe. Es gab weit und breit keine magischen Wesen, von denen in der Prophezeiung die Rede war.
Wir beobachteten seinen ereignislosen Ritt über mehrere |165| Tage hinweg, die im Spiegel sekundenschnell vorüberhuschten. Er ritt die einzige Straße entlang, die aus seinem Königreich Richtung Osten führte. Er überquerte die Grenze zum Vierzehnten Königreich, ritt in einen tiefen Wald hinein und folgte weiter der Straße, die nun aber eher wie ein Pfad wirkte.
Wenigstens in unsere Richtung,
dachte ich.
Das Neununddreißigste Königreich erreicht man vom Zwölften aus, indem man...
Weitere Kostenlose Bücher