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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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füllte den Kessel mit Wasser aus einem tieferen Abschnitt des Baches. Dann wusch er sich und trat ins Haus, um das Feuer zu entfachen. Baba Jaga musterte ihn eingehend.
    »Du hast etwas davon gesagt, meine Matratze mit frischem Gras zu füllen«, sagte sie.
    »Selbstverständlich«, antwortete er. »Sobald ich den Eintopf aufgesetzt habe.«
    Er sah sich um, weil er nach einem Gewürzregal suchte. Der Raum war kaum wiederzuerkennen. Die untergehende Sonne strahlte durch das saubere Fenster und färbte die gewachsten Bohlen des Fußbodens rötlich braun. Die reparierte Tür schloss so dicht, dass keine Löcher für die Moskitos mehr zu sehen waren. Die Gardinen, immer noch feucht und fast wieder in ihrem ursprünglichen Weiß erstrahlend, ließen den kleinen Raum beinahe freundlich wirken. Im Ofen prasselte das Feuer. Der Kamin, den er mit einem alten |160| Besen ausgefegt hatte, qualmte nicht mehr, und die Kiefernzweige im Feuer verströmten einen angenehmen Duft.
    Er entdeckte in einem Schränkchen Salz und ein paar Gewürze, die in den Eintopf zu passen schienen. In einer Ecke stand ein Sack mit Roter Bete, Zwiebeln und Kartoffeln. Sie waren schon etwas verschrumpelt, aber er hielt sie trotzdem noch für frisch genug zum Kochen. Dann ging er hinaus, um Gras für die Matratze zu schneiden.
    Die Lichtung lag unter den letzten orangefarbenen Strahlen der Abendsonne. In diesem Licht entdeckte Iwan eine dunkle Gestalt, die im Gras vor der Hecke saß.
    »Du!«, rief er und hastete hinüber. »Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen! Wo warst du denn?«
    Der Wolf sagte nichts. Er saß nur still da und starrte an Iwan vorbei.
    Hinter ihm raschelte es leise. Iwan wandte sich um und sah die alte Frau, die in der Tür stand.
    »Also das ist dein Freund, ja?«, sagte Baba Jaga bedächtig. »Jetzt kann ich mir vorstellen, warum er so schwer zu finden war!«
    »Wieso?« Iwan war verwirrt. Warum schwieg der Wolf? Was stimmte hier nicht?
    Baba Jaga schien seine Frage gar nicht gehört zu haben. Sie kam zu ihnen herüber. Sie humpelte ein wenig, aber trotz ihres vermeintlichen Alters war ihr Schritt energisch wie der einer jungen Frau. Sie sah auch nicht mehr so vernachlässigt aus. Ihr graues Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten und hinten in ihr Leinenkleid gesteckt, über das sie eine abgenutzte, aber saubere Schürze gebunden hatte. Ihre Miene war nicht zu deuten. Es schien Iwan sogar, als unterhalte sie sich unhörbar und unsichtbar mit dem Wolf.
    »So«, sagte sie schließlich. »Du wagst es also, mir deine hässliche, pelzige Schnauze zu zeigen, Tier? Du hast keine Angst mehr vor meinem Zorn?«
    |161| Der Wolf knurrte. Iwan wurde sich erneut der Tatsache bewusst, wie ähnlich die Augen des Wolfes und die von Baba Jaga aussahen – gelb, mit senkrecht verlaufenden Pupillen.
    »Stumm?« Sie stand über ihm, und obgleich sich ihr Aussehen keinen Deut verändert hatte, wirkte sie mit einem Mal jung und schlank wie ein Mädchen vom Lande. »Keine Stimme mehr, wie?« Sie lachte kurz auf.
    Der Wolf knurrte wieder und senkte den Kopf unter ihrem eindringlichen Blick.
    »Also wirkt es tatsächlich, ja?«, fuhr sie fort. »Du bist nun stumm. Wortlos, wie das Tier, das du bist.«
    Der Wolf hob den Kopf. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke – gelb in gelb. In diesen Blicken lag eine ganze Unterhaltung. Iwan fühlte sich wie ein Eindringling, als er das beobachtete.
    Dann kam wieder Leben in Baba Jaga. »Junge!«, rief sie Iwan zu. »Bring mir die alte Axt, die du hinter dem Ofen gefunden hast. Ein Tier wie dieses verdient es nicht, mit einer anständigen Waffe getötet zu werden!«
    Iwan rührte sich nicht. »Der Wolf ist mein Freund«, sagte er. »Und welcher Zauber ihm auch die Sprache geraubt haben mag, ist er doch kein einfaches Tier. Ich lasse nicht zu, dass du ihm etwas antust, altes Mütterchen!«
    Der Augenblick schien ihm endlos lang, als sie ihm in die Augen sah. Ihre senkrechten Pupillen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Ihr Blick durchbohrte ihn.
    »Du wagst es, dich für ihn einzusetzen, Junge?«, fauchte sie. In diesem Moment wirkte sie selbst wie ein Tier. Es kostete Iwan seinen ganzen Mut, ihrem Blick standzuhalten.
    »Das tue ich, altes Mütterchen«, beharrte er. »Welchen Grund er auch für sein Schweigen haben mag, und was auch immer in der Vergangenheit zwischen euch stand, so ist er doch alles, was ich auf der Welt habe, und ich werde zu ihm stehen!«
    |162| Ihre Miene änderte

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