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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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eingeschüchtert. »Ich werde tun, was Ihr verlangt.«
    Ich fühlte mich in die Ereignisse hineingezogen, so wie zuvor in Iwans Kindheitsgeschichte, so, wie ich mich in seinem Lächeln und seinen blitzenden Augen verloren hatte. Ich wusste nicht, ob ich ihn mir tot oder lebendig wünschen sollte. Meine Gefühle waren zwiespältig, und es war mir nicht möglich, den Blick vom Spiegel loszureißen. Ich war mir nicht einmal mehr meines Vaters neben mir bewusst, der von dieser Geschichte nicht weniger gefesselt schien als ich.
    Die gedungenen Mörder – fünf an der Zahl – hatten keine Schwierigkeiten, Iwan einzuholen, der, zuerst auf seinem klapprigen Pferd und dann zu Fuß, nur langsam vorankam. Ich bemühte mich, innerlich Abstand von der Szene zu wahren, als sie ihn niederritten, dann absaßen und ihm mehrmals ein Schwert in die Brust stießen. Der Anführer zog ihm irgendetwas von der Hand – zweifellos den Ring   –, und die fünf ritten nach Westen fort.
    Das kann niemand überleben,
dachte ich.
    Es war der Graue Wolf, der ihm zu Hilfe kam. Er sprang aus den Büschen hervor, sobald die Mörder weg waren. Für mich sah Iwan wie ein Toter aus, aber der Wolf war offensichtlich anderer Meinung. Er sammelte einige Blätter am Waldrand, kaute sie und spuckte sie auf Iwans Wunden. Dann brachte er seine haarige Schnauze, noch immer verklebt mit verkrustetem |171| Pferdeblut, über Iwans Mund und half ihm zu atmen. Mit seiner Pfote fühlte er nach Iwans Herz, und er schien es schlagen zu spüren, denn seine Augen funkelten plötzlich vor beinahe menschlich wirkender Freude. Dann mühte er sich ab, bis er Iwan auf seinem Rücken liegen hatte, und schleppte ihn bis zum nächsten Dorf, wo er ihn vor einer Türschwelle ablegte und verschwand.
    Im Spiegel spielen sich die Ereignisse viel schneller ab als im wirklichen Leben. Natürlich stellte sich der Mann, vor dessen Schwelle der Wolf Iwan abgelegt hatte, als der geschickteste Heiler weit und breit heraus. Der alte Mann mit den traurigen Augen und den schlanken, geschickten Händen, die für alle möglichen Aufgaben geeignet schienen, vollbrachte Wunder, träufelte ein Medikament auf die klaffenden Wunden in Iwans Brust, fütterte ihn mit Brühe und Kräutereintopf, wachte endlose Stunden an seinem Bett und lauschte dem gequälten Atmen und dem kaum vernehmlichen Herzschlag.
    Er holte den Jungen ins Leben zurück. Wahrscheinlich war Nikifor der Einzige in allen Königreichen, der Iwan zu retten vermochte. Der Graue Wolf hatte alles unternommen, damit der Junge weiterlebte. Aber warum?
    Nicht lange, und Iwan war wieder fähig aufzustehen, und wenig später schritt er nach draußen und saß mit seinem Gastgeber und Retter vor dem Haus in der Sonne. Er wurde zu einem willkommenen Gast in der Isba des einsamen Mannes, und er half diesem bei der Arbeit im Haushalt. Und dann kam eines Tages der Wolf zurück.
    Die Geschichte, die uns der Spiegel zeigte, verlangsamte ihr Tempo. Die Bilder wurden so real, dass ich fast die Hitze des prasselnden Feuers zu spüren glaubte und den Duft der Kräuter, die von den Deckenbalken hingen.
    Gleich würden wir den Kern dessen erleben, was wir von dem Spiegel erfahren wollten.
    |172| Ich hielt die Luft an, als ich sah, wie das große Tier in die kleine Isba schritt und sich auf der Matte neben dem Kachelofen niederließ. Als es zu sprechen begann, hallten seine Worte laut durch die kleine Holzhütte ebenso wie durch mein großes Gemach mit seinen Steinmauern.
    »Geh raus, Junge«, sagte der Wolf zu Iwan, »und hol noch etwas Holz!«
    Er tauschte einen Blick mit Nikifor. Ich nahm wahr, wie sich der alte Mann auf seinem Stuhl aufrichtete. Iwan allerdings rührte sich nicht.
    »Ich freue mich auch, dich zu sehen«, sagte er.
    Ich bebte am ganzen Leib. Würde dieser Junge jemals lernen, den Ursprünglichen den ihnen zustehenden Respekt zu zollen?
    Der Wolf hatte offensichtlich keine Geduld mit ihm.
    »SOFORT!«, grollte er.
    Nikifor schob sich in seinem Stuhl nach hinten, und selbst ich unterdrückte nur mühsam den Drang, zurückzutreten. Aber Iwan zeigte keinerlei Furcht.
    »Danke, es geht mir gut«, sagte er gelassen.
    Der Wolf erhob sich, und die beiden starrten einander an. Dann ließ sich der Wolf wieder am Ofen nieder. »Aha«, sagte er lediglich.
    »Du hast die ganze Zeit recht gehabt«, warf Nikifor ein.
    Der Wolf wandte sich dem alten Mann zu. In seinen gelben Augen loderte ein Feuer. »Hast du dich in etwas eingemischt, was dich

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