Die Sonnwendherrin
herausstellte, war sie, als sie von ihrem Schicksal erfuhr, mit dem Sohn des Müllers durchgebrannt und hatte ihr jungfräuliches Blut vergossen.«
Ich seufzte. Solche Dinge geschahen von Zeit zu Zeit. Manche Mädchen, oder sogar ihre Familien, vermochten sich mit ihrem Schicksal nicht abzufinden. Falls so etwas geschah, wurde der Mann, der die Opfermaid geschändet hatte, ergriffen und hingerichtet, doch die Maid selbst wurde verschont. In diesen Fällen erwählte die Sonnwendherrin auf der Stelle eine neue passende Maid.
Das Gesicht des alten Mannes im Spiegel zog mich an. Ich wollte nichts mehr hören. Und doch wollte ich kein Wort versäumen.
»Meine Swetlana war die älteste Jungfrau, die es in unserem Dorf noch gab«, fuhr Nikifor fort. »Wir hatten keine andere Wahl, als sie an Fioklas statt zu übergeben.«
Er schwieg. Eine Weile lang war nur das Prasseln des Feuers im Kachelofen zu vernehmen.
|176| »Ich habe geschworen«, sagte Nikifor, »alles zu tun, was in meiner Macht steht, um den üblen Kult des Kupalo zu Fall zu bringen.«
Eine große Kraft schwang in seinen Worten mit. Obgleich ich nicht zugegen war, fühlte ich mich beunruhigt. Wie konnte dieser Mann es wagen, über unseren Gott zu urteilen? Auch wenn sein Schicksal traurig oder gar ungerecht sein mochte, konnte er doch nicht einfach seine belanglosen Familienangelegenheiten mit denen des großen Gottes gleichstellen!
»Und du?«, fragte Iwan den Wolf. »Welches Interesse hast du an alldem?«
Das mächtige Tier blickte ihn eine Weile verschlossen an. Dann kam Leben in ihn. »Zeig mir dein Muttermal, Junge!«, befahl er.
Diesmal erstickte die vibrierende Macht in seiner Stimme jeglichen Widerspruch. Iwan zog sein Hemd aus.
Da war es, auf seiner linken Schulter. Es sah genau wie eine Pfeilspitze aus, die man mit rotgoldener Farbe auf seine Haut gemalt hatte. Sie zeigte diagonal hinab, in Richtung seines Herzens.
Der Wolf nickte. »Sehr eindrucksvoll«, sagte er.
»Warte!«, rief Iwan. »Du glaubst doch nicht wirklich, ich sei der Auserwählte oder so was in der Art!«
Der Wolf schnaubte und unterdrückte ein Lachen. »Du solltest eigentlich alt genug sein, Junge, zu wissen, dass es keine ›Auserwählten‹ gibt! Du wirst deine Rolle zu spielen wissen, das ist alles.«
»Und wenn ich nicht will?«
»Als hättest du etwas Besseres zu tun!«
»Und du willst mir nicht sagen, warum
du
möchtest, dass ich diese Rolle spiele?«, fragte Iwan.
»Doch«, sagte der Wolf zu ihm. »Eines Tages.«
»Genug!«, sagte mein Vater neben mir. Der Spiegel überzog |177| sich augenblicklich mit Nebel und verbarg alles vor unseren Blicken.
Ich trat vom Spiegel zurück. Mein Herz flatterte wie ein Vogel im Käfig. Ich hatte stets geglaubt, dass die Angelegenheiten unseres Königreichs nur uns etwas angingen. Was ich nicht gewusst hatte, war, dass es dort draußen Menschen gab, die unseren Glauben an Kupalo auslöschen wollten.
»Warum hast du abgebrochen, Vater?«, fragte ich.
»Ich habe genug gehört«, sagte er. »Wieder ein schwacher Versuch, die Prophezeiung zu verwirklichen. Wir werden den Jungen wie eine Fliege zerquetschen.«
»Aber welche Rolle spielt der Wolf dabei?«, wollte ich wissen. »Warum mischt er sich ein?«
Mein Vater sah mich an. Er kannte den Grund, das wurde mir in diesem Augenblick klar. Doch er wollte ihn mir nicht nennen.
»Komm, Marja«, sagte er stattdessen. »Du brauchst deinen Kräutertrank, und dann musst du schlafen. Du musst Kraft tanken. Und ich habe noch etwas zu erledigen.«
»Was denn, Vater?«, bohrte ich.
Er blickte mir in die Augen. »Ich glaube, ich weiß, wer dem Jungen außerdem noch geholfen hat«, sagte er. »Aber ich muss sichergehen!«
»Kann ich dir helfen?«, fragte ich, von einem neuen Ausdruck in seinem Blick beunruhigt, den ich nicht zu deuten vermochte.
»Diesmal nicht, Marja«, sagte er.
Er nahm mich in die Arme und strich mir über das Haar. Er ließ seine Hände durch die glatten, kräftigen Strähnen gleiten. Diesmal lag keine Herausforderung darin. Stattdessen erzeugte seine Berührung ein wundervolles Gefühl der Ruhe in mir. Ich sog seinen Duft ein, so vertraut und beruhigend, den kalten Duft nach Stein, der bei Vollmond gewaschen worden war und der die Sicherheit der Steinwände |178| symbolisierte, die mich vor dem Aufruhr und den Leidenschaften der Welt dort draußen schützten. Meines Vaters steinerne Welt, die mich umgab.
»Ruh dich aus, meine süße Marja«, sagte er. »Dein
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