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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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Vater wird alles in Ordnung bringen!«

|179| Iwan
    Baba Jaga schob ihren leeren Teller weg und lehnte sich an den warmen Kachelofen. Sie behielt immer noch den Wolf im Auge, doch war ihr Blick jetzt wesentlich entspannter als zuvor.
    »Was dieses Tier angerichtet hat«, sagte sie zu Iwan, »ist unverzeihlich! Aber es gibt nichts, was man tun könnte. Ich hatte meinen Fluch der Unsterblichen dazu verwenden wollen, ihn zu töten. Doch ich habe es lediglich fertiggebracht, ihm die Gabe der menschlichen Sprache zu nehmen. Und das auch nur, wenn ich zugegen bin. Jedem das Seine.«
    Iwan wartete, doch mehr sagte sie nicht. Er hätte sie gern gefragt, warum sie dem Wolf so böse war, aber in seiner Lage stellte man solche Fragen besser nicht. Außerdem erschien es ihm am besten, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
    »Also hilfst du uns nicht?«, fragte er stattdessen.
    »
Ihm
nicht!«, bestätigte Baba Jaga. »Ich weiß – er glaubt, das Übel, das er angerichtet hat, wiedergutmachen zu können, aber es gibt kein Zurück. Und Rache, so süß sie sein mag, löst auch kein Problem. Nein, ich werde nicht mitmachen.«
    »Und wie steht es damit,
mir
zu helfen?«, bohrte Iwan.
    Baba Jaga erhob sich und humpelte in die Ecke hinter dem Kachelofen. Es klapperte, während sie in den dunklen Tiefen herumstöberte. Eine kleine pelzige Gestalt huschte an der Wand entlang und verschwand in einer Ritze unter dem Ofen. Sie sah größer aus als eine normale Maus, und Iwan hätte schwören können, dass sie mehr als vier Beine besaß. Er blickte betont in eine andere Richtung.
    |180| Nach einer Weile erschien Baba Jaga wieder und hielt eine verstaubte Phiole in der Hand. Sie war dunkler als diejenige in der Erzählung des Klatschkaters, doch Iwan erkannte sie sofort. Sie hielt die Phiole gegen das Licht und schüttelte sie.
    »Leer«, stellte sie fest. »Ich habe eine Menge davon gebraucht, um diesen Jungen, Ilja, ins Leben zurückzurufen. Der Narr hat es fertiggebracht, sich den Kopf abtrennen zu lassen, weißt du!«
    Iwan hielt den Mund. Er dachte an die Tränen in den Augen der alten Frau, echte menschliche Tränen, die über die vertrocknete Haut ihres unsterblichen Gesichts gerollt waren. Sie war einsam, dachte Iwan. Eine alte, einsame Frau, die niemals sterben wird, mit uralten Kräften.
    Sie setzte sich und legte die Phiole auf den Tisch. Der Wolf betrachtete sie misstrauisch.
    »Euch Sterblichen bringt dieses Wasser Leben«, erklärte sie. »Aber wir Unsterblichen dürfen keinen Tropfen davon anrühren. Vielleicht enthüllt sich der Quell deshalb niemals einem Sterblichen. In allem sollte ein Gleichgewicht herrschen.«
    Iwan nahm die Phiole in die Hand und schüttelte sie sanft. Sie war leer. Nicht einmal ein Tröpfchen Wasser war mehr darin.
    »Bringst du mir das Lied bei?«, fragte er.
    »Nutzlos, Junge. Der Quell wird sich dir niemals zeigen! Außerdem schaffst du es nicht rechtzeitig.«
    »Ich muss es versuchen!«, beharrte er.
    »Aber warum denn?«, fragte Baba Jaga. »Für sie – für Marja – ist das nicht mehr als ein Scherz. Sie benötigt das Wasser nicht, um Leben zu schenken. Sie wollte lediglich einem dummen Jungen eine unmögliche Aufgabe stellen.«
    »Das hat nichts mit mir zu tun«, beteuerte Iwan. »Nur mit Kaschtschej und der Macht Kupalos. Falls ich ihre Aufgabe |181| erfülle, habe ich die Möglichkeit, das ganze Sonnwendritual zu Fall zu bringen. Wenigstens was Kaschtschej betrifft. Denn das bedeutet, dass es keine Jungfrauen-Opfer mehr gibt und seine Untertanen ihn als das sehen, was er wirklich ist. Verstehst du das nicht? Es könnte der Herrschaft Kaschtschejs ein Ende bereiten!«
    »Möglich«, gab Baba Jaga zu. »Es gab eine Zeit, da hätte ich am liebsten alles Leben aus seiner verachtenswerten Gestalt herausgeprügelt. Aber das ist lange her. Kaschtschej zu schaden, wird die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.«
    Sie schien ihre Worte mehr an den Wolf gerichtet zu haben, dessen Augen in seiner dunklen Ecke wie Juwelen funkelten. Ein Austausch hatte zwischen ihnen stattgefunden, es war, als unterhielten sie sich unhörbar.
    Dann löste Baba Jaga sich aus ihrer Versunkenheit und sah wieder Iwan an.
    »Also wirst du mir nicht helfen?«, fragte dieser nochmals.
    Sie schüttelte den Kopf. »Die Leben dieser jungen Frauen bedeuten mir nichts, Junge«, stellte sie fest.
    Weil du keine von ihnen gesehen hast,
dachte Iwan.
Keine von ihnen hatte die Gelegenheit, so wie der Wolf dein Herz zu berühren, und ihn

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