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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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seine Augen aufglühen wie Kohlen. Er bleckte die Zähne.
    »Was ist los?«, fragte Baba Jaga.
    Das mächtige Tier erhob sich und ging zu Iwan hinüber. Lautlos packte er den Kragen von Iwans Hemd mit den Zähnen und zog daran. Das dünne Leinen gab nach, und das Hemd riss weit auf.
    »He!«, rief Iwan und sprang auf. »Das war mein bestes Hemd! Wieso machst du
..
.

    Baba Jaga starrte ihn an. Sie sah nicht in Iwans Gesicht. Ihr Blick war auf seine linke Schulter gerichtet. Ein Stück über dem Herzen.
    »Ach so!«, sagte Baba Jaga bedächtig.
    »Was?«, fragte Iwan. Er hatte einen solchen Blick bisher nur einmal erlebt, als nämlich Nikifor der Heiler die klaffende Wunde in Iwans Brust gesehen hatte. Die Intensität dieses Blickes hatte ihn an der Schwelle des Todes zurückgehalten. Und jetzt ließ er ihn schaudern.
    »Warum hat er mir das nicht gesagt?«, fragte Baba Jaga den Wolf, als habe sie vergessen, dass er stumm war.
    Der Wolf sah sie nur an.
    »Tut mir leid!« Sie winkte bedauernd. »Vergiss es.«
    Dann stand sie auf und begann, in der Hütte herumzukramen. In einer dunklen Ecke fand sie schließlich einen alten, zerfledderten Besen.
    »Du bleibst hier, Junge!«, befahl sie. »Ich bin bald zurück.«
    Sie nahm die leere Phiole vom Tisch und steckte sie in ihre Schürzentasche.
    »Wo willst du hin?«, fragte Iwan.
    »Zum Verborgenen Quell, um dir vom Wasser des Lebens zu holen«, fuhr sie ihn an. »Sei doch kein Narr, Junge! Narren vergeuden ihre Zeit mit dummen Fragen, und Zeit ist zu |185| kostbar, um sie zu verschenken. Du hast nur noch drei Tage bis zur Sonnwende, oder?«
    »Ja«, stammelte Iwan verwirrt. »Aber warum – warum hast du deine Meinung geändert?«
    »Du warst so redegewandt, da ließ ich mich eben überzeugen«, sagte sie ihm, nicht ohne Ironie. »Und mehr wirst du von mir nicht hören. Wenn du mehr wissen willst, frag deinen vierbeinigen Freund hier. Obgleich – wenn er es dir bisher noch nicht gesagt hat, wird er es wahrscheinlich auch jetzt nicht tun. Also, ich bin vor Sonnenaufgang wieder zurück. Wagt es ja nicht, auf meiner Leshanka zu schlafen! Ihr könnt euch drüben auf dem Fußboden schlafen legen. Macht euch nichts aus meinen Pelztierchen. Sie beißen nicht. Jedenfalls normalerweise.«
    Sie trat aus der Tür und pfiff durch die Zähne. Der grelle Pfiff plättete das Gras auf der Lichtung und ließ das Wasser im Bach Wellen schlagen. Iwan klangen die Ohren. Betäubt beobachtete er, wie ein riesiger Mörser auf die Lichtung flog und vor der offenen Tür der Hütte liegen blieb.
    Mit dem Besen in der Hand kletterte Baba Jaga hinein und zog auch ihr Kleid ordentlich in die Schale.
    »Kann ich mitkommen?«, fragte Iwan.
    »Lass den Blödsinn, Junge!«, fauchte sie ihn an. »Der Quell zeigt sich Sterblichen nicht, hast du das vergessen? Oder glaubst du, du könntest überall die große Ausnahme sein?«
    Sie fegte mit dem Besen über das Gras. Damit erzeugte sie einen Wind, der über die Lichtung strich und die Tür der Hütte zuschlagen ließ, dass es einen lauten Knall gab und die Scharniere protestierend quietschten.
    Der Mörser hob sich vom Boden ab und verschwand in einer Staubwolke.
    »Danke schön!«, rief ihr Iwan leise hinterher.
    Dann wandte er sich um und ging zur Hütte zurück. Vorsichtig schloss er die Tür hinter sich.
    |186| »Nun«, sagte der Wolf. Iwan fuhr zusammen, weil es so überraschend war, diese Stimme nach dem langen Schweigen wieder zu hören. Offenbar funktionierte der Fluch nur dann, wenn Baba Jaga zugegen war. »Gehen wir und fangen wir ein paar Kaninchen, Junge«, schlug der Wolf vor. »Die alte Hexe wird Hunger haben, wenn sie zurückkommt. Du willst doch wohl nicht in ihrem Kochtopf enden, oder?«
    »Ich dachte, das hätte sich mittlerweile erledigt«, antwortete Iwan müde.
    »Du denkst zu viel nach, Junge«, grollte der Wolf. »Beweg dich! Los!«
    »Wieso hast du mir nicht von diesem Fluch erzählt, bevor wir hierherkamen?«, wollte Iwan von dem Wolf wissen, während er ihm auf das abendfeuchte Gras hinaus folgte. »Hätte ich gewusst, dass du nicht reden kannst, wenn sie
..
.
«
    »Ich
habe
es dir gesagt!«, fuhr ihn der Wolf an. »Du hast nur wieder mal nicht zugehört – wie immer!«
    Iwan seufzte. Natürlich hatte ihm der Wolf gesagt,
er
müsse das Sprechen besorgen, aber hätte er gewusst, was wirklich los war, wäre er besser auf die Situation vorbereitet gewesen. Doch es war müßig, mit dem Wolf zu streiten. Und jetzt spielte es auch

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