Die Sonnwendherrin
keine Rolle mehr.
Der graue Schwanz verschmolz mit den Schatten auf der anderen Seite des Baches. Dann hörte er ein Krachen und ein kurzes Quieken. Einen Augenblick später erschien der Wolf mit einer schlaffen, pelzigen Gestalt in der Schnauze.
»Nummer eins«, sagte der Wolf und legte seine Beute Iwan zu Füßen. »Beweg dich endlich, Junge! Diesmal brauchen wir mindestens neun!«
Iwan seufzte und setzte sich ins Gras, um das Kaninchen zu häuten.
|187| Marja
Heute Nacht war mein Traum viel lebhafter. Als ich durch die Hecke trat, die den Wald von der Lichtung des Opferteichs trennt, war es mit einem Mal dunkel, und obgleich der Mann sich zu mir umdrehte, war ich nicht in der Lage, seine Gesichtszüge in dieser Finsternis zu erkennen. Dann befanden wir uns nicht mehr am Opferteich, sondern in meinem Schlafgemach. Er stand vor mir und winkte mich zu sich. Unsicher, als schlafwandle ich, folgte ich ihm zu den dunklen Umrissen meines Bettes, das ich in der düsteren Tiefe des kreisförmigen Raums eher spürte als sah. Ich sehnte mich danach, sein Gesicht zu sehen, ich hatte keine Angst mehr davor, aber ich erkannte lediglich ein blasses Oval, umrandet von schwarzen Haaren.
»Du musst jetzt schlafen!«, flüsterte er, und ich spürte, wie seine Hände an den Trägern meines Kleides nestelten, fühlte den Seidenstoff von meinen Schultern gleiten, über Bauch und Hüften streichen und in einem kleinen Häufchen zu meinen Füßen liegenbleiben. Ich spürte, wie seine Hände meinen nackten Körper streichelten und ich eine Gänsehaut bekam. Das war nicht die Berührung eines Mannes, der mich in den Schlaf wiegen wollte. Dies war pure Erregung, und mein Körper reagierte darauf.
Ein Teil meines Verstandes wollte protestieren, aber ein anderer – stärkerer – Teil sehnte sich nach seiner Nähe. Ich ließ den Teil hinter mir, der noch schwach widersprach, und gab mich der Erregung hin, war bereit für das, was kommen sollte.
|188| Er ließ seine Hände sinken und trat ans Bett, um die Decke für mich zurückzuschlagen. Ich schlüpfte darunter, meiner Nacktheit vor ihm nur zu bewusst. Dann zog er sich aus und kam zu mir unter die Decke.
Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch seine Hand bedeckte meine Lippen. Sein Gesicht war dem meinen so nahe, dass es mich fast berührte. Sein kühler Atem brannte, als er flüsterte: »Still, meine süße Marja. Jetzt musst du dich entspannen.«
Ich zitterte, als seine nackte Haut die meine berührte, als sein Körper mir so nahe war. Etwas daran war undenkbar, doch auf andere Weise auch wieder richtig. Unfähig, mich zu beherrschen, sank ich in seine Arme, fühlte, dass ich genau dorthin gehörte, in diese Umarmung, die so viel schöner war als die Liebkosungen aller Liebhaber dieser Welt.
Mein brennender Körper gab der Berührung seiner kühlen Hand mit dem Durst eines Wanderers nach, der in der Wüste gestrandet ist. Mein Verstand, an den Rand meines Bewusstseins gedrängt, schrie mir etwas zu, was ich gar nicht hören wollte. Ich ließ ihn los und verscheuchte ihn wie eine lästige Fliege. Ich ergab mich der Glückseligkeit, die kein Mann auf der Welt mir zu geben vermocht hatte.
Bis jetzt.
Meine Arme streckten sich nach ihm, um seine Umarmung zu erwidern, doch er hielt sie sanft zurück und legte sie an meine Seiten. Er flüsterte mir etwas ins Ohr, aber ich konnte seine Worte nicht verstehen. Nur die Kühle seines Atems spürte ich, die Art, wie er meine brennende Haut berührte und mir vorübergehend Linderung verschaffte, bis diese ungeheure Anspannung sich in mir mit wilder Lust entlud. Mein Verstand kreiste irgendwo darüber, schlug mit seinen albernen Schwingen, während er versuchte, sich auf mich zu stürzen, doch meine Sicht verschleierte sich, und ich nahm ihn nicht mehr wahr.
|189| Seine Hände trieben mich an den Rand der Ekstase und hielten mich dort fest, bis ich meinen Körper nicht mehr spürte. Ich war ganz Verzückung – nur noch Gefühl, getragen von dem unglaublichen Geschick meines Liebhabers. Noch eine seiner Berührungen, und ich würde mich auflösen, mich verlieren.
Ich sehnte mich nach immer noch mehr Nähe, wollte eins mit ihm werden, Licht und Finsternis, Kälte und Feuer in einem, doch er hielt mich geschickt dort am Rande fest, berührte mich nur mit seinen Händen, flüsterte süße und sinnlose Worte in mein Ohr, sanft wie ein Liebender.
Einmal öffnete ich kurz die Augen und sah sein Gesicht ganz nahe vor mir, onyxfarbene
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