Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
Vom Netzwerk:
herein.
    »Lass sie in Ruhe, Marja«, sagte er. »Sie hat ihre Befehle.« »Wessen Befehle?«
    »Deines Vaters.«
    Zorn stieg in mir auf. »Sie ist
meine
Leibdienerin!«, sagte ich nachdrücklich. »Welches Recht hat mein Vater, ihr den Befehl zu geben, Dinge vor mir zu verbergen?«
    Der Rabe flatterte auf einen Sims mir gegenüber. »Was habt du und dein Vater letzten Abend gemacht?«
    »Wir – wir haben den Spiegel befragt, um mehr über den Jungen herauszufinden. Wie du es vorgeschlagen hattest.« Ich fühlte, wie sich etwas in meinem Hinterkopf regte, verdrängte es jedoch. Was hatte die letzte Nacht mit alldem zu tun?
    »Und dann?«
    »Mein Vater ging, und ich legte mich schlafen.« Ich spürte, wie eine verräterische Röte in meine Wangen kroch. Meine Träume. Das konnte der Rabe doch wohl nicht ahnen, oder?
    »Wohin ging er?«, fuhr der Rabe mit seinen Fragen fort.
    Ich öffnete den Mund, um es ihm zu sagen, und dann schloss ich ihn wieder.
Dein Vater wird alles in Ordnung bringen!,
hatte er gesagt. Außerdem hatte er behauptet, er wisse jetzt, wer außer dem Grauen Wolf dem Jungen noch geholfen hatte.
    Ich kannte meinen Vater nur zu gut.
    »Was hat mein Vater getan?«, wollte ich wissen.
Was hat er angerichtet?
    »Er hat einen Schuldigen gefunden«, antwortete der Rabe.
    |193| »Wer ist es?«
    »Nein!«, rief Praskowja. »Halt ein! Ihr dürft es nicht wissen, Herrin! Bitte!«
    Ihr Blick war flehend. Ein Schauder überlief mich. Ich hatte noch niemals erlebt, dass sich Praskowja so verhielt.
    »Das willst du, Praskowja?«, fragte der Rabe. »Du stellst Kaschtschej über deinen eignen Va
..
.
«
    »Halt ein!«, kreischte Praskowja. Es war ein Befehl. Aber mehr noch war es ein Bitten.
    »Dein eigener – Vater?«, flüsterte ich.
    Plötzlich hatte es Praskowja eilig. Sie hastete zu meiner Truhe hinüber und kramte darin herum. »Kommt, Herrin!«, sagte sie. »Es ist ein großer Tag. Ihr müsst euch fertig machen.«
    »Aber
..
.
«
    »Sie will es so, Marja«, sagte der Rabe. »Da kannst du nichts machen.«
    »Mir scheint, das kann ich sehr wohl, da mein Vater beteiligt ist!« Ich schob Praskowja beiseite und schritt aus dem Raum.
    Die verängstigten Blicke von Dienern, die sich, so gut es ging, von mir fernhielten, begleiteten mich die enge Wendeltreppe hinab zu dem Seitenflügel des Schlosses und, nach einigem Suchen, eine weitere, endlos erscheinende steinerne Wendeltreppe hinab in feuchte, modrige Räume unter dem Schloss. Ins Verlies.
    Ich war bis dahin nur einmal in meinem Leben dort gewesen, und auf diese Erfahrung hätte ich lieber verzichtet. Ich nahm eine brennende Fackel aus ihrer Wandhalterung und schritt einen zugigen Gang entlang auf den flackernden Lichtschein zu, der am anderen Ende sichtbar wurde. Die feuchte Kälte umgab mich mit einem Gestank nach Moder und Verfall. In den tanzenden Schatten schienen Dinge über die Wände zu kriechen, an die ich lieber gar nicht erst denken |194| wollte. Hier unten war ich keine mächtige Frau mehr, hier war ich bloß ein verängstigtes junges Mädchen, genau wie damals, mit zehn Jahren, als ich zufällig hierhergefunden und Dinge gesehen hatte, die ich, so die Anordnung, unbedingt hatte vergessen sollen – und doch nicht vergessen konnte.
    Die Steinwände verbreiterten sich zu einem größeren Raum. Ich sah in einer Ecke eine Fackel flackern, daneben eine dunkle, in einen Umhang gehüllte Gestalt – meinen Vater? – und noch etwas
...
    Ich schob mich vor. Die Fackel wog mit einem Mal schwer in meiner Hand.
    Mein Vater drehte sich um. »Marja?«, fragte er. »Was machst du
..
.

    Ich hörte nicht hin. Ich sah an ihm vorbei den alten Mann an, der ausgestreckt an der Wand hing. Seine Arme und Beine waren weit gespreizt und jeweils mit groben Eisendolchen, die von dunklen Flecken getrockneten Blutes umgeben waren, an die Wand geheftet. Das lange weiße Haar und der schmale, gerade Bart waren zerzaust und mit irgendeiner getrockneten Flüssigkeit verklebt, die ich im dürftigen Fackelschein nicht zu erkennen vermochte. Die nackte Brust war mit Blutflecken übersät, die beinahe die klaffenden Wunden darunter verbargen. Sein Gesicht war so bleich, dass es mir grauer erschien als der Stein hinter ihm. Und doch leuchteten seine Augen – blau wie das Wasser in einem Sommersee – heller als Edelsteine aus seinem verhärmten Gesicht. Der Körper des Mannes war gebrochen, doch sein Geist war es nicht!
    »Lass ihn frei, Vater!«, flüsterte ich.
    »Wer hat es dir

Weitere Kostenlose Bücher