Die Sonnwendherrin
gesagt?«, wollte mein Vater wissen. »Bestimmt Praskowja, oder? Ich werde diese Frau
..
.
«
»Du wirst nichts, Vater!«, sagte ich energisch, wenn ich auch meine Stimme mit Gewalt zur Ruhe zwingen musste. |195| »Du wirst diesen Mann losmachen und meine Diener nach seinen Wunden sehen lassen. Und du wirst Praskowja in Ruhe lassen! Sie hat mir gar nichts gesagt. Ich habe dich gesucht und hier gefunden, das ist alles.«
»Aber Marja, das verstehst du nicht!«, wandte mein Vater ein. »Dieser Mann hat dem Jungen geholfen, in deinen Turm zu gelangen. Er hat dem Jungen von den Fallen erzählt! Außerdem hat er ihm gesagt, dass wir ihm nichts antun können, wenn er um deine Hand anhält. Er hat unserem Feind eine Waffe gegen uns in die Hand gegeben!«
»Das wird auch nicht ungeschehen gemacht, wenn du ihn folterst!«, sagte ich. »Lass ihn gehen, Vater. Und zwar
sofort
!
«
»Du kannst mir keine Befehle erteilen, Marja«, sagte mein Vater. Doch in seinem Tonfall lag keine Schärfe. Er wusste, dass ich es sehr wohl konnte. Genau wie ich.
»Heute«, sagte ich, »ist die Sommersonnwende. Der Tag Kupalos. Es ist der einzige Tag im Jahr, an dem ich dir Befehle erteilen darf, Vater! Und du musst sie befolgen, wenn du willst, dass die Sonnwendfeier richtig abläuft. Heute ist
mein
Tag, und das weißt du!«
Ich wandte mich zurück zu dem Gang, durch den ich gekommen war, und sah ängstliche Gesichter, die hinter der nächsten Biegung hervorlugten. Praskowja und die ihr unterstellten Dienerinnen – Lubawa und Nastja wahrscheinlich. Pavel, der Stallbursche. Weitere Leute, die ich kaum kannte.
»Lasst diesen Mann frei«, sagte ich ins Leere hinein. »Bringt ihn nach oben in die Gemächer der Diener. Verbindet seine Wunden. Pflegt ihn! Heute gehört er mir. Morgen werden mein Vater und ich über sein Schicksal entscheiden.«
Ich spürte, wie der Blick meines Vaters in meinem Nacken brannte, doch ich wandte mich nicht zu ihm um. Ich schritt durch die Menge, die sich hastig vor mir teilte, und setzte meinen Weg nach oben fort.
|196| Iwan
Je weiter sie das Dickicht um die Hütte Baba Jagas hinter sich ließen, desto leichter wurde das Gehen. Es gab keine klebrigen Ranken mehr, die nach Iwans Beinen griffen und sein Tempo verlangsamten. Keine Haselnusssträucher, deren Zweige sein Gesicht peitschten. Stattdessen erhoben sich vor ihnen die willkommenen Umrisse schlanker Birken, die einzelne Sonnenstrahlen durch ihre luftigen Kronen fallen ließen.
Es war ungewöhnlich, dass der Wolf hinter ihm hertrottete, statt ihn zu führen. Gelegentlich warf Iwan einen Blick auf die graue Gestalt an seinen Fersen. Ihm lag eine Frage auf der Zunge, doch er war klug genug, sie nicht zu stellen.
Als der Baumbestand immer dünner wurde, gesellte sich der Wolf endlich zu Iwan. Seine Augen glitzerten. Iwan wurde erst jetzt bewusst, dass auch das große Wesen ihn gemustert hatte. Das war ungewöhnlich. Mehr als das: Es raubte ihm den letzten Nerv.
»Du willst mich etwas fragen, Junge, nicht wahr?«, sagte der Wolf schließlich.
»Ja.«
»Nur zu«, ermutigte ihn der Wolf. »Frage!«
Iwan wandte sich dem mächtigen Tier zu. »Was hast du getan, um Baba Jaga so zornig zu machen?«, platzte er heraus. »Warum hat sie dich verflucht, dass du in ihrer Nähe nicht mehr sprechen kannst?«
Es gab eine kurze Pause. Iwan fürchtete schon, er würde |197| keine Antwort erhalten. Allerdings gab es wahrhaftig Schlimmeres, sagte er sich.
Als der Wolf dann doch sprach, kam es so überraschend, dass Iwan zusammenfuhr, obgleich ihm die Stimme doch so vertraut war.
»Da war ein Mädchen«, sagte der Wolf. »Jagas Mündel. Mit ihr verwandt.«
Er hielt inne, und sie gingen schweigend weiter. Es schien bereits das Ende der Geschichte zu sein. Iwan wollte schon aufgeben, als der Wolf weitersprach.
»Elena«, sagte er. »So hieß sie. Sie war die schönste Frau der Welt.«
»Und?«, forderte Iwan.
Der Wolf grollte. »Wenn du mich ständig unterbrichst, dann übernimm doch am besten gleich selbst das Reden! Du scheinst dich wohl für so klug zu halten, dass du die Geschichte selbst fortsetzen kannst, oder?«
»Nein, Wolf!«, beteuerte Iwan. »Tut mir leid. Ich werde dich nicht mehr unterbrechen.«
Sie legten eine beträchtliche Strecke zurück, bevor die Geschichte fortgesetzt wurde.
»Jaga hat nicht gesagt, wo Elena eigentlich herkam«, fuhr der Wolf fort. »Sie mag ihre eigene Tochter gewesen sein, soweit ich weiß. Oder vielleicht hat Jaga mit ihren
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