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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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Iwan. Sofort bereute er seine Worte, doch es war zu spät.
    »Ach, ja? Das weißt du also?«, grollte der Wolf. »
Ich
kann es mir lediglich vorstellen.«
    Iwan hielt es für das Beste, standhaft zu bleiben. »Wir haben die Nadel«, sagte er. »Also kann uns Kaschtschej nichts tun, stimmt’s? Und was Marja betrifft: Muss sie mich nicht heiraten, wenn ich ihr das Wasser bringe?«
    »Möchtest du das?«
    Iwan überlegte. »Nicht gegen ihren Willen«, sagte er schließlich leise. »So etwas würde ich nie erzwingen.«
    »Ich denke«, sagte der Wolf trocken, »das hättest du dir überlegen sollen, bevor du ein heiliges Ritual in Gang gesetzt hast, indem du um ihre Hand anhieltst.«
    Iwan schritt schweigend einher. Seine Schultern hingen mit einem Mal, als trüge er eine schwere Last. »Muss sie es denn?«, fragte er.
    »Vor der Opferzeremonie muss sie überhaupt nichts. Es ist Sonnwende. Sie ist die Herrin.
Sie
herrscht in dieser Nacht.«
    Iwan wirkte mit einem Mal unsicher. »Aber ich dachte
..
.
«
    »Was?«
    »Nichts.«
    »Du hast geglaubt, sobald sie dich sieht, wird sie dir in die Arme fallen, oder?«, stichelte der Wolf. »Wie könnte sie, eine mächtige Zauberin und die schönste Frau der Welt, einem solchen Charmeur wie dir auch widerstehen?«
    Iwan hob den Kopf und sah mit verschleiertem Blick in |201| die Ferne. »Du hast schon recht«, bestätigte er. »Natürlich. Aber ganz gleich, was das Gesetz sagt, werde ich nicht zulassen, dass sie mich gegen ihren Willen heiratet. Lieber würde ich sterben.«
    Der Wolf blickte ihn von der Seite her an. »Mir scheint es, als hättest du schon genug Möglichkeiten, zu Tode zu kommen, und musst nicht noch weitere erfinden! Wie wäre es, wenn wir uns stattdessen mit wichtigen Dingen beschäftigen, in Ordnung?«
    Iwan wandte sich ihm zu. In seinem Blick lag ein neuer Ausdruck, als würden diese leuchtenden Kornblumen von einem bedeckten Himmel überschattet. »Sicher«, sagte er. »Sprechen wir stattdessen über wichtige Dinge.«
    Der Wolf wartete ab, aber weiter kam nichts.
    »Wir müssen bis nach dem Opfer warten«, sagte der Wolf eindringlich. »Gleich nachdem das Mädchen unter Wasser verschwindet, trittst du vor und meldest deinen Anspruch an. Nur – bitte keine Heldentaten! Nicht in den Teich springen, um das Mädchen zu retten, hörst du? Dieser Ort ist tödlich! Wodjanoj selbst ist dort am Werk. Aus seinen Klauen kann niemand entkommen.«
    »Aber – wir können das Mädchen doch nicht einfach sterben lassen!«, widersprach Iwan. »Wenn wir kurz vor dem Opfer eingreifen
..
.
«
    »Dann kann Marja mit dir machen, was immer sie will«, beendete der Wolf den Satz für ihn. »In der Sonnwendnacht ist sie allmächtig!
Nach
dem Opfer geht die Macht an ihren Vater über. Doch während er die Seele des Mädchens verschlingt, ist er verwundbar.
Dann
müssen wir handeln!«
    »Aber – wir können nicht einfach dort stehen und das Mädchen ertrinken lassen!«, beharrte Iwan.
    »Wir können!«, widersprach der Wolf. »Wir müssen! Denk nicht einmal daran, in den Opferteich zu springen, Iwan der Narr! Du wirst noch genug Möglichkeiten zum |202| Sterben bekommen, wenn du bei Kaschtschej den richtigen Augenblick verpasst! Oder auch bei deiner wunderschönen künftigen Braut. Verstehst du mich?«
    Iwan hob den Blick und sah dem Wolf in die Augen. »Ja«, sagte er zögernd.
    »Gut. Denk daran: Du sprichst mit Marja. Ich übernehme Kaschtschej. Versprich mir, dass du dich nicht einmischen wirst!«
    Pause.
    »Ich verspreche es.«
    Der Wolf nickte. »Denk daran, Junge«, sagte er, »niemand ist dem Erfolg bisher so nahe gekommen. Niemand – in der ganzen Geschichte dieses Reiches. Es liegt alles bei dir, Junge! Verdirb es nicht!«
    »Das werde ich nicht!«, sagte Iwan.

|203| Marja
    Die Oberfläche des Sees lag still wie ein Spiegel da und reflektierte die Blau- und Rosatöne des abendlichen Himmels. Über dem Wasser lag schon eine Spur von Dunst, tiefer als die hohen Schilfhalme, die das Ufer auf trügerische Weise verdeckten. Es war eigentlich gar kein See, nur eine Verbreiterung des Flusses, und unter der Oberfläche vermochte ich kleine Strömungswirbel zu sehen. Ich kannte den See in- und auswendig, wusste genau, an welchen Stellen man das Ufer am besten erreichen konnte, wie man die unsichtbaren Pfade zwischen den Schilfhalmen fand, wo man gefahrlos ins Wasser gleiten konnte und wo die trügerische Strömung den Schwimmer hinabziehen würde, hinab in die Umarmung der

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