Die Sonnwendherrin
seinem Platz zur Ruhe gekommen war.
»Ich konnte doch nicht versäumen, wie sich die Prophezeiung erfüllt«, krächzte er.
»Du hast es aber doch versäumt«, sagte mein Vater. »Der Jüngling hat sich eben selbst Kupalo geopfert.«
Ich blickte den Wolf an. Sein Körper wirkte angespannt – ein kantiger dunkler Fleck vor dem ebenfalls dunklen Wald. Er schloss für einen endlos scheinenden Moment die gelben Augen, und dann öffnete er sie, gerade, als unter ihm noch mehr Grasbüschel verwelkten.
Nun spitzte er die Ohren und stand wachsam da. Die feinen Sinne des Ursprünglichen nahmen etwas wahr, das uns entging.
Gleich darauf vernahmen wir es alle. Wir hörten ein entferntes Platschen, ein Rascheln im Schilf, und dann, wie sich jemand seinen Weg durch das Unterholz bahnte.
Vor dem Hintergrund des Feuerscheins zeichnete sich eine dunkle Gestalt zwischen den dichten Büschen am Ufer ab. Ein Mann, der etwas Schweres in den Armen trug. Einen Körper
...
eine nackte Frau.
|221| »Aljona«, flüsterte ich, und wie im Traum sah ich zu, wie Iwan zu uns kam und sie sanft auf den Boden legte.
Sie war tot, soweit ich das beurteilen konnte. Grüne Schlingpflanzen bedeckten ihre Arme und Beine und hatten sich in ihrem langen nassen Haar verfangen. Sie war blasser als der Mond, der nun hell vom Himmel schien, und in ihren halb geöffneten Augen schimmerte kein Funken Leben. Ihre Haut war aufgeschürft, wo ihr Körper wahrscheinlich Felsen unter Wasser gestreift hatte. Ihr Mund war schmerzvoll verzerrt, die Zähne bloßgelegt, und so trug ihr einst so hübsches Gesicht einen unmenschlichen Ausdruck.
Ich sank schluchzend zu Boden. Meine Beine trugen mich plötzlich nicht mehr. Dies war mein Werk, ganz gleich aus welchem Grund. Ich war nicht darauf vorbereitet, mich dem zu stellen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte ich Tränen in mir aufsteigen, und ich drängte sie mit aller Macht zurück, als ich ihre steife Hand in meine nahm. Ihre Hand war verkrampft, als habe sie versucht, sich von den tödlichen Pflanzen zu befreien. Ich hatte keine Ahnung, wie Iwan dort lebend herausgekommen war, denn der Opferteich hatte noch nie versagt.
»Mach dir keine Gedanken, Marja«, sagte Iwan mit sanfter Stimme. »Ich bringe ihr das Leben zurück.«
Iwan öffnete die Phiole und spritzte ein paar Tropfen daraus auf Aljonas Körper.
Gebannt sahen wir alle zu. Ihre Gesichtszüge glätteten sich und nahmen einen friedlichen Ausdruck an. Farbe kehrte in ihre Wangen zurück. Ihre Augen schlossen sich vollends und öffneten sich dann wieder, und sie waren erfüllt von neuem Leben und Staunen.
»Herrin«, wisperte sie, als sie sah, dass ich mich über sie beugte.
Ich wollte zu ihr sprechen, sie beruhigen, dass nun alles vorüber sei, aber die verräterischen Tränen kamen irgendwie |222| dazwischen und raubten mir die Stimme. Ich brachte es lediglich fertig, den Kopf zu schütteln und ihre nun wieder warme Hand in meinen Händen zu halten.
Ich hatte noch nie gesehen, wie das Wasser des Lebens seine Wunder vollbrachte.
Teile der Prophezeiung gingen mir durch den Kopf:
Er kommt in der Sonnwendnacht, bringt Leben der Geopferten...
Wie konnte er das?
Und was passierte jetzt mit meinem Vater, da er ihre Seele nicht verschlingen konnte?
»Geh nach Hause, Mädchen«, sagte der Graue Wolf zu Aljona. »Niemand wird dir mehr wehtun.«
»Hier ist dein Kleid«, sagte Iwan, der von irgendwoher mit ihrem weißen Gewand aufgetaucht war.
Wir halfen ihr hinein und spürten, wie sie in der kühlen Nachtluft zitterte. Ich richtete ihr Haar so gut es ging, wobei ich immer noch kein Wort herausbrachte. Praskowja und ihre Dienerinnen erschienen wie aus dem Nichts und führten Aljona weg.
Mein Vater rührte sich schließlich. »Gib mir nun die Nadel zurück!«, forderte er Iwan auf.
Der Graue Wolf trat hinter Iwan vor. »Ich habe mich freiwillig bereit erklärt, sie künftig zu hüten, wenn es dir recht ist, Kaschtschej«, mischte er sich ein. »Ich denke, wir zwei sind noch nicht fertig miteinander.«
Ich sah, wie mein Vater erbleichte.
»Was meint er damit, Vater?«, fragte ich. Plötzlich erfasste mich Furcht. Doch mein Vater antwortete nicht.
»Sag’s ihr schon!«, forderte ihn der Graue Wolf auf, und mit einem Mal sah ich, dass die glitzernde Nadel zwischen seinen Zähnen steckte, als kaue er auf einem schimmernden Grashalm.
»Gib sie mir!«, verlangte mein Vater erneut.
»Komm schon, Kaschtschej. Sie hat immer geglaubt, du |223| seist
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