Die Sonnwendherrin
vor ihren Augen seine Gestalt. Es war faszinierend. Ich hatte so etwas vorher noch nie beobachtet. Genauso musste es bei mir aussehen, wenn ich mich in eine Taube verwandelte, doch dabei zugeschaut hatte ich mir selbst eben nie. Er bückte sich und schrumpfte plötzlich zu einem kleinen schwarzen Etwas zusammen. Und dann saß dort, wo eben noch ein Mann gestanden hatte, ein Rabe!
Rabe?
Er breitete die Flügel aus und flog davon.
Ich schrak vor dem Wolf zurück und atmete schwer. Alle beobachteten mich eindringlich. Doch ich hatte nur Augen für den schwarzen Vogel, der reglos auf seinem Ast saß.
»Rabe?«, fragte ich. Es klang mehr wie ein Aufkeuchen.
»Was hat dir dieses Tier gezeigt?«, wollte mein Vater wissen.
|226| Zum ersten Mal in meinem Leben schenkte ich ihm keinerlei Beachtung. Ich konnte den Blick nicht von der reglosen Gestalt des Raben wenden.
»Du hattest eine menschliche Gestalt?«, flüsterte ich.
Er antwortete nicht. Er schloss lediglich die Augen, um meinem Blick zu entgehen.
»Das war noch nicht das Ende der Geschichte«, mahnte der Wolf. »Sieh genau hin, Marja!«
»Was soll das?«, fuhr ich ihn an. »Welchen Zauber zwingst du mir auf?«
»Den gleichen wie dein Spiegel«, erklärte der Wolf. »Die Magie der Ursprünglichen. Aber jetzt sieh endlich hin, Mädchen, bevor ich die Geduld verliere!«
Ich wollte nicht hinsehen. Doch ich konnte nicht anders; die Macht des Blickes des Grauen Wolfs war stärker als alles, was ich bisher gefühlt hatte.
Das Mädchen, Elena, war nun allein. Sie spielte noch ein Weilchen mit ihren Glockenblumen, und dann ging sie weg und vergaß das blaue Blütenhäufchen neben dem Bach. Sie ging ins Haus und trat erneut heraus, immer wieder zum Himmel aufblickend.
Und dann erstarrte sie, als eine andere Gestalt auf der Lichtung erschien.
Da ich die vertrauten Züge erkannte, tat mein Herz einen Sprung und wollte anschließend beinahe zu schlagen aufhören.
Er ging mit dem selbstsicheren, beschwingten Schritt des geborenen Verführers auf sie zu. Ein Eroberer, der gerade eine schöne Beute erspäht hatte, die seiner gesamten Aufmerksamkeit wert war: mein Vater, Kaschtschej, der Unsterbliche.
Man hatte mir berichtet, dass er früher einmal genauso oft seinen Charme bei Frauen eingesetzt hatte wie brutale Gewalt. Ich hatte seinen Verführerblick oft genug gesehen, um |227| ihn nun wiederzuerkennen. Und noch schlimmer: Ich sah einen ähnlich interessierten Blick in den grünen Augen des Mädchens, den sie jedoch vorsichtig hinter einer gelangweilten Miene verbarg.
Ich musste gar nicht mehr hinsehen, um zu wissen, was als Nächstes geschehen würde.
»Genug«, sagte ich und trat von dem Wolf zurück. »Ich will nicht mehr sehen. Ich weiß auch nicht, wieso du mir das zeigen musst.«
Mir war klar, dass die Verführungsspiele meines Vaters oftmals zu Ungerechtigkeit und Zerstörung führten, doch ich hatte vor langer Zeit gelernt, mich davon zu distanzieren. In meinem augenblicklich so verwirrten Zustand, da ich gerade eines geopferten Mädchens wegen fast geweint hätte, und da ein Mann, für den ich gefährlich viel empfand, gleich neben mir stand, wollte ich keine weitere Unglücksgeschichte mehr über mich ergehen lassen. Also hatte mein Vater dem Raben seine Liebste weggenommen. Soweit es mich betraf, war das eine Sache zwischen den beiden. Was ging es mich an?
Der Wolf grollte tief, allerdings klang seine Stimme durch die Nadel zwischen seinen Zähnen etwas gedämpft.
»Geh von ihm weg, Marja!«, befahl mein Vater. »Du musst diesen Unsinn nicht mitmachen!«
»O doch, das muss sie!«, sagte der Wolf und verzog die Lefzen zu einem Lächeln, das neben der glitzernden Nadel noch seine sämtlichen prachtvoll schimmernden Zähne zeigte. Dann kehrte sein strahlend gelber Blick zu mir zurück, und ich vermochte ihm nicht zu widerstehen.
Es war genau, wie ich vermutet hatte. Das leichtsinnige Mädchen vergaß den Raben und folgte meinem Vater in sein Schloss. Bei einem kurzen Abschiedsgespräch erklärte sie dem Raben, Kaschtschej sei ihre wahre Liebe, und der dumme Vogelmensch gab ihr seinen Segen, anstatt ihr ein wenig Vernunft einzuprügeln.
|228| Es war schwer, seine Trauer und seinen Schmerz mitanzusehen. Er war so untröstlich, dass er sogar seine menschliche Gestalt für alle Zeiten aufgab. Deshalb hatte ich nie davon erfahren, das war mir jetzt klar.
Doch es gab noch mehr zu sehen.
Elena kam aus dem Schloss und begegnete zwei Menschen, die auf dem
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