Die Sonnwendherrin
einen kaum hörbaren Seufzer aus. Es war vollbracht. Wieder ein Jahr vorüber. Eine weitere Sonnwende.
Ich schloss die Augen, als ich spürte, wie mein Vater neben mich trat.
»Marja«, flüsterte er. »Gut gemacht! Nun bring sie mir!«
Ich fühlte, wie er vor Erregung bebte. Seine heiße Erwartung erfasste mich, so stark war sie. Ich sandte meine Gedanken aus und suchte
...
Irgendetwas ließ mich mit einem Mal die Augen öffnen. Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich wahr, dass sich in den Büschen hinter uns etwas bewegte. Dann hörte ich ein Rascheln, und jemand brach durch das Dickicht und erreichte das Ufer des Opferteichs.
Der Junge – Iwan – stand vor mir. Sein Hemd war an der Schulter zerrissen, und in seinem Haar steckten kleine Stücke von Reisig. Seine Miene zeigte wieder dieses törichte Lächeln.
In seiner ausgestreckten Hand hielt er
...
...
eine Phiole, die eine leuchtende Flüssigkeit enthielt.
»Ich bin’s, Marja«, sagte er. »Ich bin zurück. Ich habe getan, was du verlangtest.«
Ich öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Das konnte einfach nicht wahr sein! Nicht
jetzt
!
»Was ist das?«, fragte ich.
Iwans Lächeln wurde noch breiter. Er sah aus wie ein |212| Kind, das mit einem Gewinn nach Hause zu seinen Eltern kommt.
»Wasser des Lebens«, sagte er. »Aus dem Verborgenen Quell. Wie du es wolltest. Und es ist noch immer die Nacht der Sonnwende. Also habe ich meine Aufgabe erfüllt, schönste Marja. Und nun
..
.
«
»Das kann nicht sein!«, flüsterte ich. »Ich glaube dir nicht. Das kannst du nicht so schnell vollbracht haben!«
Mein Vater trat vor und stellte sich zwischen uns. »Das ist kein guter Zeitpunkt, Junge«, sagte er. »Geh weg, wir kümmern uns später um dich.«
Iwans Blick verhärtete sich. »Ihr habt die jungfräuliche Seele noch nicht verschlungen, Kaschtschej«, sagte er leise. »Und ich werde es auch nicht zulassen. Diesmal nicht!«
Mein Vater blickte amüsiert drein. »Oh, ja? Und bitte schön, wer könnte mich daran hindern?«
Aus der Dunkelheit ertönte ein tiefes Grollen, und mein Vater erstarrte augenblicklich.
Eine mächtige Gestalt trat hinter Iwan hervor. Er sah genau wie ein Wolf aus, doch sein Kopf befand sich auf der Höhe von Iwans Schultern. Ein riesiger Wolf. Ein Wesen von großer magischer Kraft.
Mir wurde mit einem Mal bewusst, dass um uns herum keine Menschenseele mehr war. Alle Leute waren zur Lichtung mit dem Freudenfeuer zurückgekehrt. Nur wir vier standen am Ufer. Ich und mein Vater. Iwan und der Graue Wolf.
»Ich«, sagte der Wolf. »Ich kann dich daran hindern, Kaschtschej. Nun, Junge
..
.
«
Aber Iwan hörte nicht hin. Er stand am Ufer, die glühende Phiole in der Hand. »Ich kann sie zurückholen
..
.
«, sagte er so leise, dass man ihn kaum verstand. »Sie verdient es nicht, zu sterben. So jedenfalls nicht!«
»Wage es nicht!«, warnte ihn der Wolf.
|213| Iwan hob den Blick und sah uns alle an. Sein Blick wurde sehr sanft, als er über mich glitt, und ich spürte, wie mich eine Wärme durchströmte, als streife mich ein Sonnenstrahl.
Er zog sein Hemd aus, und endlich bekam ich zu sehen, wovon ich so viel gehört hatte. Ein Muttermal in der Form eines Pfeiles. Es war rötlich braun, und im Schein der Kerzen, die nun auf ihren Blumenkränzen den Teich zum Fluss hinuntertrieben, glitzerte es beinahe wie Gold. Es befand sich an seiner linken Schulter, und der Pfeil zeigte geradewegs auf sein Herz.
Die Worte der Weissagung kamen mir unwillkürlich in den Sinn. Ich hatte sie nur einmal gehört. Warum konnte ich mich dennoch an sie erinnern?
»In der Sonnwendnacht kommt der Held der Legende mit seinem goldenen Pfeil, und er bringt die Wende« ,
flüsterte ich.
»Vergebt mir«, bat er. »Aber ich kann es nur auf diese Weise vollbringen.« Damit sprang er geradewegs in den Opferteich und verschwand unter Wasser.
»Gut«, sagte mein Vater in düsterem Tonfall. »Er hat mir die Mühe erspart.«
Der Wolf knurrte etwas, das alles Gras zu seinen Füßen welken und sich gelb verfärben ließ. Dann setzte er sich hin und kratzte sich wie ein Hund hinter dem Ohr. Kleine Fellfetzen flogen durch die Luft.
Wir traten näher ans Ufer, um den Tumult unter der dunklen Oberfläche zu beobachten. Wir wussten, dass es kein Entkommen aus dem Opferteich gab.
|214| Iwan
Er war ein guter Schwimmer. Doch weder Geschick noch Kraft konnten der tödlichen Strömung widerstehen, die nun auf ihn wirkte. Diese Strömung packte seinen
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