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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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gewinnen kann, spielt Wodjanoj, indem er Menschen ertrinken lässt. Dieses Spiel kann man leider nicht gewinnen!
    Sie hörte ihm aufmerksam zu. Dann trieb sie von hinten her in sein Gesichtsfeld: ein kleines Mädchen in einem weiten weißen Kleid mit einem glühenden Stück Holz in der Hand. Ihr Haar fiel ihr in Locken auf die Schultern, als befände sie sich nicht unter Wasser, sondern stünde mitten auf ihrer kleinen Insel im Moor.
    Ihre Miene war ernst. »Da hast du nicht recht, Iwan der Narr«, sagte sie. »Onkel Wodjanoj ist sehr freundlich. Weißt du, er spielt sogar mit mir! Das macht Onkel Leschy nie.«
    Ach so,
dachte er.
Mein Fehler, tut mir leid.
    »Du hast das Beste noch gar nicht gehört.« Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an Iwans heran, und ihre Augen funkelten spitzbübisch. »Er sagte, weil ich eine so gute Spielkameradin bin und weil du mein Freund bist, wird er dich gehen lassen. Und wenn du willst, darfst du sie auch mitnehmen.« Sie nickte in die Richtung, wo Aljonas Körper neben ihm in den Schlingpflanzen steckte. »Ihretwegen bist du doch hier, oder? Obwohl die anderen im Moor sehr enttäuscht wären. Diesmal kein verwestes Fleisch.«
    Wodjanoj würde das zulassen? Wirklich?
    »Ja!« Wieder kicherte sie. »Ich hab dir doch gesagt, dass er richtig nett ist!«
    Ja, das ist er wohl,
dachte Iwan voller Wohlwollen.
Aber auch, wenn er mich gehen lässt, habe ich keine Chance, mich aus diesen Schlingpflanzen zu befreien!
    »Alleine nicht«, bestätigte sie. »Aber die Rusalkas werden dir helfen.«
    Rusalkas?
    Er spürte, wie flinke Finger die Ranken von seinen Beinen entfernten. Mit einem Mal konnte er sich wieder rühren.
    |218| Er wandte sich um und sah blasse Gestalten, die in dem schlammig aufgewühlten Wasser um ihn herumschwammen. Im einen Augenblick wirkten sie noch wie Frauen, im nächsten jedoch wie riesenhafte, stachlige Hechte. Rusalkas. Er hatte bereits von ihnen gehört. Leschy und Wodjanoj, die beiden Brüder, hatten eigenartige Wesen erschaffen.
    Nun war er beinahe frei. Er sah auch, wie sie die Schlingpflanzen von Aljonas Körper lösten. Die Strömung erfasste das Mädchen, drehte sie um und zog sie sanft über den Grund.
    »Du kannst doch schwimmen, oder?«, fragte Oksana.
    Ja, kann ich,
dachte er.
Falls mich die Pflanzen nicht wieder packen.
    »Das werden sie nicht«, versicherte sie. »Schwimm nur den Fluss hinunter und steig dort drüben ans Ufer. Du kannst sie mitnehmen.« Sie nickte in Richtung des leblosen Körpers, der, von der nun frecher werdenden Strömung gepackt, langsam ins Dunkel hineintrieb.
    Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Oksana,
dachte er.
Ich...
    »Das hast du schon«, sagte sie schnell. »Du hast mir einen Spitznamen gegeben. Seither ist alles viel besser. Ich bin nicht mehr die Oksana ohne Spitznamen. Und Onkel Leschy nimmt mich auch nicht mehr auf den Arm. Jetzt wissen alle, wer ich bin!«
    Ich werde für die Moorbewohner Fleisch herbringen,
versprach er.
Eine ganze Kuh, wenn du magst.
    »Nein«, sagte sie und rümpfte die Nase. »Sie würden niemals eine
Kuh
anrühren! Aber du kannst ja dort drüben ein paar Kaninchen hineinwerfen. Das wird ihnen gefallen.«
    Sie wandte sich ab und bewegte sich im Wasser von ihm fort. Oder – eigentlich bewegte sie sich gar nicht, doch plötzlich befand sie sich in einiger Entfernung von ihm. Ihr Umriss begann zu verschwimmen.
    |219|
Danke schön, Oksana!,
rief er ihr in Gedanken hinterher. »Keine Ursache, Iwan der Narr!«, gab sie zurück. »Bis zum
    nächsten Mal!«
    Und damit war sie verschwunden.
    Er klemmte sich das lebensrettende Schilfrohr fest zwischen die Zähne und schwamm los, um Aljonas Körper mit kräftigen Zügen einzuholen. Dieser verfing sich an einem Felsbrocken und hing dort still um die raue Steinfläche gekrümmt. Iwan drehte ihn herum und zog ihn sich auf den Rücken. Der Körper wog schwer. Aber falls nichts dazwischenkam, würde er so das Ufer, das in der Düsternis schwach zu erkennen war, auf jeden Fall erreichen. Er packte entschlossen einen toten Arm und schwamm mit kräftigen Beinschlägen darauf zu.

|220| Marja
    Das Schweigen lastete schwer auf uns. Dann sah ich, wie der Rabe aus der Dunkelheit heranflog und sich auf einem nahen Ast niederließ.
    Er hatte sonst das Sonnwendopfer stets gemieden. Ihn nun hier zu sehen, war schon eigenartig. Ich bemerkte, wie er einen Blick auf das dunkle Wasser des Teichs warf und dann wegsah. Außerdem brauchte er ungewöhnlich lang, bis er an

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