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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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gepflasterten Schlossplatz auf sie gewartet hatten. Eine davon, das hochgewachsene, schlanke Mädchen mit dem langen Zopf, war mir vertraut. Wie sie sich bewegte, die majestätische Haltung, mit der sie trotz ihres einfachen Gewands wie eine Adlige wirkte
...
Sie wandte sich um, und ich sah die vertraute Linie ihres Halses, die runden Wangen, süß und glühend wie junge Pfirsiche.
    Praskowja?
    Ich wusste, dass sie einst eine Schönheit gewesen war, doch hier wirkte sie so edel und majestätisch, dass sie selbst neben Elena gut wegkam, und diese war doch die schönste Frau der Welt! Ich bemerkte, wie sich in einem der schmalen Fenster an der Seite des Schlosses etwas bewegte, und dann kam das Gesicht meines Vaters zum Vorschein. Auch er bemerkte Praskowja augenblicklich. Ein Raubtier, das eine neue Beute erspäht. Das Funkeln seiner Augen schwächte sich zu bloßer Langeweile ab, als er Elena anblickte. Doch keines der beiden Mädchen bemerkte ihn.
    Ich erkannte auch den Mann, der neben ihnen stand. Er war zu dieser Zeit noch jünger, sein Bart und das lange, glatte Haar wiesen noch keine Spur von Weiß auf, aber aus den blauen Augen leuchtete derselbe unbeugsame Geist wie noch heute, da ich ihn im Verlies meines Vaters gesehen hatte. Jener Mann, der nun oben in meinem Turm lag und von meinen Dienern umsorgt wurde.
    Praskowjas Vater.
    Nun ergab das alles einen Sinn. Doch es war noch nicht vorüber.
    |229| Mein Herz wurde immer schwerer, als ich nun eine Lichtung am Ufer des Sees erblickte, dieselbe, auf der wir uns befanden. Ich konnte die spiegelnde Oberfläche des Sees mit seinen trügerischen Unterströmungen erkennen. Mein Vater und Elena traten unter den Bäumen aus der Richtung der großen Lichtung hervor, wo die Sonnwendfeiern stattfanden, und blieben stehen, um den Anblick zu bewundern.
    Sofort wurde mir klar, worum es ging.
    Mein Traum!
    Mein Herz wehrte sich gegen diesen Anblick, doch es war machtlos dem Wolf gegenüber. Alles, was ich fertigbrachte, war zuzusehen.
    Bis zum bitteren Ende.
    Ich sah, dass Elena etwas in der Hand hielt. Und
meine
Hand prickelte, als die vertraute Form eines warmen ovalen Gegenstands sie zu füllen schien. Genau wie bei Elena.
    Doch im Gegensatz zu mir schien es sie nicht zu stören.
    »Das ist ein guter Platz zum Schwimmen«, sagte mein Vater. »Der beste in dieser Gegend.«
    Hör nicht auf ihn
!
, beschwor ich sie innerlich. Es war mir gleich, was Vater mit seinen Frauen anstellte, wenn er ihrer müde war, aber zusehen zu müssen, wie er diejenige tötete, die des Raben ganzes Leben darstellte, war zu viel für mich.
    Ich wollte es nicht sehen.
    Ich konnte nicht wegschauen.
    »Ich würde so gerne schwimmen gehen!«, sagte sie, und ihr Gesicht glühte vor Freude. Sie liebte ihn immer noch, das sah man. Und ich hasste sie deswegen. »Aber ich kann mein Kind nicht zurücklassen«, fuhr Elena fort. »Sie wird erfrieren.«
    »Gib sie mir«, sagte mein Vater. »Ich halte sie warm für dich. Für uns.« Er warf ihr einen liebevollen Blick zu, von dem ich wusste, dass er gelogen war.
    Elena zögerte einen Augenblick. Dann öffnete sie die Hand und reichte das, was sie gehalten hatte, meinem Vater.
    |230| Es war ein Ei. Ein geflecktes Vogelei.
    »Ich wünschte, sie könnte als Mensch aufwachsen«, flüsterte Elena und sah das Ei liebevoll an.
    »Das wird sie«, sagte mein Vater. »Schließlich besaß ihr Vater einst auch menschliche Gestalt. Wenn sie geschlüpft ist, werde ich ihr beibringen, genau wie er die Gestalt zu wechseln. Jetzt geh schwimmen, meine Liebste, und wir beide warten hier auf dich.«
    Elena war genauso dumm, wie ich vermutet hatte. Ohne zu zögern, zog sie ihr Kleid aus und sprang geradewegs in den Opferteich. Sobald sie im Wasser war, wandte sich mein Vater ab und ging in den Wald zurück.
    Sie brauchte lange, bis sie starb. Sie kämpfte gegen die Strömung an, die sie unter Wasser zog, gegen die Schlingpflanzen, und sie besaß eine Kraft, die ich ihrem schlanken Körper nicht zugetraut hätte. Als ihre Schreie die Luft erfüllten, sah ich einen schwarzen Vogel aus dem Wald geradewegs zum Opferteich fliegen.
    Er kreiste in niedriger Höhe über dem Wasser, versuchte, sie mit seinen Klauen herauszuziehen, bemühte sich dann, etwas zu finden, das groß genug war, damit sie sich daran festhalten konnte. Er kam ihr so gefährlich nahe, dass sein Gefieder klitschnass wurde und ihre verzweifelt zugreifenden Hände auch ihn beinahe noch unter Wasser gezogen hätten.
    Er

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