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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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ihr nächster Anverwandter. Hab den Mut und sag es ihr selbst. Wessen Tochter ist sie?«
    »Meine!«
    Ich sah, wie mein Vater das Gesicht verzog, als der Wolf ganz leicht, fast spielerisch, auf die Nadel in seiner Schnauze biss.
    »Lass es gut sein, Wolf«, sagte der Rabe plötzlich, und der Schmerz in seiner Stimme ließ mich erstarren.
    »Na schön«, stieß mein Vater heftig hervor. »Und was, wenn sie des Raben Tochter ist? Welchen Unterschied macht das? Er hat sie freiwillig hergegeben!«
    »Sein Geist war gebrochen, Kaschtschej«, widersprach der Wolf. »Und du hast das ausgenutzt, weil sie so perfekt dazu geeignet war, Kupalo auf deine Weise zu dienen.«
    »Wovon sprecht ihr?«, fragte ich und hatte das Gefühl, dass alle um mich herum langsam verrückt wurden. »Ich? Die Tochter des Raben?«
    Der Wolf wandte mir seine graue Schnauze zu. Seine gelben Augen glühten im Mondschein. Plötzlich spürte ich, wie ich in seinen Blick hineingezogen wurde. Zwei gelbe Kohlen mit senkrechten Pupillenschlitzen füllten mein gesamtes Gesichtsfeld und blendeten mich einen Augenblick lang mit ihrer strahlenden Helligkeit. Dann verblasste das Licht, und ich sah vor mir eine Waldwiese und ein gemütlich wirkendes Haus an der Biegung eines leise plätschernden Baches.
    Ich war mir sicher, diesen Ort schon einmal gesehen zu haben. Ich konnte mich jedoch nicht erinnern, wo das gewesen war. Vielleicht in meinen Träumen?
    Ein junges Mädchen rannte in die Szene hinein. Sie lachte. Ein Kranz wilder Astern krönte ihren Kopf, und sie trug einen großen Strauß Glockenblumen im Arm. Am Bach sank sie ins Gras, ließ die Blumen fallen, atmete schwer und blickte erwartungsvoll in die Richtung, aus der sie gekommen war.
    |224| Sie war so schön, dass mir der Atem stockte, als ich die perfekten Bewegungen ihrer schlanken Finger beobachtete, wie sie durch die Blumen strichen, die ihrer Hände, wie sie abwesend durch das lange schwarze Haar fuhren, und die schön geschwungene Schwanenkurve ihres Halses. Sie hatte klare grüne Augen, die wie zwei Smaragde aus ihrem warmen, freundlichen Gesicht schimmerten. Genau wie ihr gesamtes Wesen strahlten sie Lachen aus, Glück und Gesundheit. Sie hätte mein Ebenbild sein können, wäre sie nicht so warm, so glücklich, so von Leben und Liebe erfüllt gewesen, dass unsere unglaubliche Ähnlichkeit kaum mehr zu erkennen war.
    Wer war sie?
    Das Mädchen musste nicht lange warten. Eine weitere Gestalt löste sich aus dem Schatten der Büsche am Rand der Lichtung. Ein Mann. Blass, dunkle Haare, verträumte Augen und eine Hakennase. Es war etwas eigenartig Vertrautes an ihm.
    Der Mann setzte sich neben ihr ins Gras. Sie sahen sich in die Augen und lachten. Dann fiel sie ihm in die Arme, und nach einer Ewigkeit von Küssen legte sie sich neben ihn, den Kopf auf seinem Schoß. Sie wirkte wie ein Kätzchen, wie sie zufrieden mit ihren Blumen spielte. Der Mann blickte so voller Glück auf sie hinab, dass es mir fast das Herz brach.
    Ich hatte ihn mit Sicherheit schon oft gesehen. Aber möglicherweise nicht in dieser Gestalt?
    Durch den Schleier über meinen Ohren war ich immer noch imstande, die Geräusche der wirklichen Welt zu vernehmen, die ich zurückgelassen hatte, um in den gelben Tiefen der Wolfsaugen zu versinken. Es war, als blickte ich in meinen Spiegel, es wirkte jedoch realer. Ich konnte die Blumen in den Händen des Mädchens riechen, genau wie den Duft ihrer Haut: Er war wie der frische Duft des Wassers in einem klaren Waldquell.
    |225| Die Liebe im Blick des Mannes war unerträglich.
    »Ich muss gehen, Elena«, sagte er. Seine Stimme war leise und tief, jedenfalls tiefer, als ich es von einem so schmächtigen Mann erwartet hätte. Und sie klang so vertraut, dass ich seine Gegenwart beinahe spürte, irgendwo außerhalb meiner Reichweite.
    »Bleibst du lange weg?«, fragte sie, während sie so damit beschäftigt war, zwei Glockenblumenstiele ineinander zu verflechten, dass sie seinen Blick nicht einmal erwiderte.
    Welch Kummer lag in seinem Blick! Welch Schmerz, da er sie verlassen musste!
    Warum war ich gezwungen, das mitanzusehen?
    Ich wollte mich befreien, konnte es aber nicht. Die Augen des Wolfs hielten mich fest in ihrem Bann.
    »Nein, meine Liebste.« Es war beinahe ein Flüstern. »Ich bin bald zurück.«
    Ganz sanft hob er ihren Kopf von seinem Schoß, legte ihn auf ein weiches Grasbüschel und stand auf. Im Liegen beobachtete sie ihn wie ein verspieltes Kätzchen.
    Der Mann veränderte

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