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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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Körper wie eine Puppe und zog ihn hinab, hinab zu den Schlingpflanzen am Grund, die wie Haare im Wind wehten.
    Er sah immer weniger, und dennoch entdeckte er einen menschlichen Körper, der sich in den Schlingpflanzen verfangen hatte. Eine nackte Frau.
    Sie war tot.
    »Aljona«, flüsterte er, und seine Lippen bewegten sich gegen den Widerstand des kalten Wassers. Es wurde dunkler. Er spürte, wie die Strömung die glitschigen Schlingpflanzen um seine dagegen ankämpfenden Beine wickelte. Sein Arm streifte die leblose Hand Aljonas und sank weiter hinab in das seidige Grün des Tang-Dickichts.
    Seine Lunge brannte. Bald würde er Luft holen müssen.
    Luft.
    Seinen – letzten – Atemzug –
    Es hatte keinen Zweck, sich dagegen zu wehren. Er vermochte nicht mehr zu unterscheiden, ob es der anbrechenden Nacht wegen dunkler wurde oder weil seine Augen allmählich versagten. Er zwang seine Augen, offen zu bleiben, und bemühte sich, Licht an der Oberfläche des Teichs zu erkennen.
    Marja –
    Wolf –
    Ich habe – versagt –
    |215|
Es gibt – keine Vergebung – für – das, was ich getan habe –
    Ich habe nicht auf dich gehört –
    Versagt –
    Vergib mir, Wolf. Marja, vergib mir, wenn du kannst.
    Er öffnete den Mund zum Atmen.
    Und schloss ihn wieder.
    Der hohle Halm eines Schilfrohrs trieb von der Oberfläche heran und schob sich mit Druck zwischen seine verkrampften Kiefer. Dann sagte eine Stimme neben seinem Ohr: »Spuck das Wasser aus. Und dann atme durch das Rohr.«
    Er griff danach.
    Ausblasen –
    Atmen –
    Luft strömte in seine brennende Lunge, gerade, als er spürte, dass er es nicht mehr aushalten würde.
    Luft.
    »Atme!«, befahl die Stimme. »Atme, Iwan der Narr!«
    Er folgte dem Befehl. Eine Weile konnte er sich nur darauf konzentrieren, wie – quälend langsam – Luft in seine hungrige Lunge strömte. Er füllte seinen gesamten Brustkorb und hielt die Luft an, bis er das Gefühl hatte, platzen zu müssen. Dann stieß er sie aus und beobachtete, wie die silbrigen Blasen zur Oberfläche aufstiegen. Der Oberfläche, die er nie wieder von der anderen Seite zu sehen bekommen würde.
    Eine Zeit lang war das alles, wozu er fähig war: einatmen, ausatmen. Er verschwendete keinen Gedanken an die eigenartige Tatsache, dass jemand neben ihm zu ihm sprach, und zwar so mühelos, als stünden sie auf einer Waldlichtung. Dann, als dieses wundervolle Atmen den ersten Reiz verloren hatte, begann er, sich zu wundern. Er bemühte sich, den Kopf zu drehen, aber sein Körper hatte sich derart in den Schlingpflanzen verfangen, dass er sich nicht rühren konnte.
    Er versuchte zu sprechen. Die Worte kamen mehr wie ein |216| Gurgeln heraus, und sein Mund war im Nu voll mit schlammigem Wasser.
»Wer bist du?«
    Gelächter. Ein kindliches Kichern. »Versuche lieber nicht zu sprechen! Denk einfach nur, was du sagen willst. Unter Wasser sind deine Gedanken genauso laut wie Glocken. Glaub nicht, dass ich taub bin oder so was!«
    Er probierte es.
Wer bist du? ,
dachte er.
    »Erinnerst du dich nicht an mich? Ich bin Oksana, das Irrlicht! Du hast mir meinen Spitznamen gegeben, das ist noch keine vierzehn Tage her. Erinnerst du dich jetzt? Ja?«
    Oksana. Die Kikimora aus Leschys Moor. Sicher erinnerte er sich an sie! Auch ohne dieses Gekichere würde er eine untote Fünfjährige mit einem glühenden Ast in der Hand niemals vergessen. Und ihre Augen – nein, niemals könnte er sie vergessen!
    Wie hast du mich gefunden? ,
dachte er.
    Wieder kicherte sie. »Es freut mich, dass du dich an mich erinnerst, Iwan der Narr! Es ist süß, dass du glaubst, du könntest mich niemals vergessen. Und ich werde dich auch immer in Erinnerung behalten! Deshalb bin ich dir gefolgt, als ich sah, dass du hierherkamst. Dieses Gewässer hat eine direkte Verbindung zu unserem Moor, weißt du? Wenn hier die Körper zu verwesen beginnen und Teile von ihnen wegtreiben, dann ist das für einige der Tiere in unserem Moor ein wahres Festmahl! Ich wünschte, mir würde es genauso schmecken wie ihnen! Aber – ich esse so etwas nicht mehr
..
.
«
    Sie plapperte drauflos wie ein Kind, das – von den Erwachsenen vernachlässigt – glücklich ist, ein offenes Ohr gefunden zu haben.
    »Das Moor – das gehört Onkel Leschy, weißt du, weil es ein wenig wie ein Wald ist, aber der Teich hier gehört Onkel Wodjanoj, dem Wassermann, den kennst du doch auch, oder?«
    |217|
Ich weiß von ihm,
dachte er müde.
Wo Leschy Rätsel aufgibt, die man manchmal sogar

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