Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
von Personen, die dasselbe Gen zweimal besitzen (Homozygoten). In diesem Fall dürfte die Frequenz des Mutanten ein Gleichgewicht mit dem alten Gen erreichen, ohne dass eines von beiden komplett fixiert wird. Das Schulbeispiel hierfür ist die Sichelzellenanämie; das Gen, auf das sie zurückzuführen ist, ist in den Malariagebieten von Afrika bis Indien verbreitet. Zwei Sichelzellen-Gene verursachen schwere Anämien mit hohem Todesrisiko. Zwei normale Gene bedeuten ein hohes Risiko für schwere Malariaerkrankungen. Ein Sichelzellen- und ein normales Gen zusammen (die heterozygote Form) schützen vor beidem. Das führt zu einer hohen Frequenz der heterozygoten Form in den Malariagebieten, die durch den Selektionsdruck der Malaria einigermaßen stabil gehalten wird.[ 51 ]
Seit der Trennung der Abstammungslinien von Mensch und Schimpansen hat die Abstammungslinie des Menschen ein Muster verfolgt, das dem von Tieren offenbar generell entspricht. Bestätigt sich dies, so ist es höchst bedeutsam für unser Verständnis von der Entstehung des Menschen. Gemäß diesem Muster dominieren codierende Gene, die Veränderungen in der Struktur von Enzymen und anderen Proteinen steuern, die Merkmalsexpression in bestimmten Geweben, etwa in solchen, die mit der Immunabwehr zu tun haben, mit dem Geruchssinn oder der Spermaproduktion. Nichtcodierende Gene dagegen, die die von den codierenden Genen veranlassten erblichen Entwicklungsprozesse steuern, sind stärker in die Entwicklung und Funktion des Nervensystems involviert. Obwohl die Untersuchungen, auf denen diese Unterscheidung beruht, erst vorläufig sind, gilt es als wahrscheinlich, dass Veränderung an nichtcodierenden Genen für die kognitive Evolution entscheidend waren – anders gesagt, für die Veränderungen, die uns zum Menschen gemacht haben.[ 52 ]
Und welche kognitiven Merkmale haben sich nun über Mutation und natürliche Selektion herausgebildet, sei es an codierendem oder nichtcodierendem Material? Höchstwahrscheinlich alle. Zwillingsstudien, in denen Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen untersucht werden (die also dasselbe Genmaterial besitzen, weil sie beide aus derselben befruchteten Eizelle stammen), legen nahe, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Introvertiertheit/Extrovertiertheit, Schüchternheit und Erregbarkeit stark dem genetischen Einfluss unterliegen.[ 53 ] In einer gegebenen Population sind etwa 25 bis 75 Prozent der Unterschiede zwischen Individuen auf die Gene zurückzuführen.
Der evolutionäre Ursprung fortgeschrittenen Sozialverhaltens beim Menschen wie bei jedem anderen Organismus hängt aber zumindest in gleichem Maße vom genetischen Einfluss auf die unterschiedliche Beschaffenheit sozialer Netzwerke ab. Wir würden erwarten, dass auch das in gewissem Grad genetisch gesteuert wird, entsprechend Turkheimers «erstem Gesetz» der Verhaltensgenetik – demnach variieren aufgrund genetischer Unterschiede alle menschlichen Merkmale in bestimmtem Ausmaß. (Die anderen beiden «Gesetze» lauten: «Die Auswirkungen davon, in derselben Familie aufzuwachsen, sind kleiner als die Auswirkungen der Gene» sowie: «Ein substanzieller Anteil der Unterschiede in komplexen menschlichen Verhaltensmerkmalen ist nicht auf die Auswirkungen der Gene auf Familien zurückzuführen».)[ 54 ] Besonders Interaktionen haben so viele Ursachen im Verhalten des Einzelnen, und jede einzelne davon variiert wahrscheinlich genetisch bedingt, dass es höchst erstaunlich wäre, wenn sie sich, kombiniert in sozialen Netzwerken, zu nichts aufsummieren würden. Persönliche Netzwerke sind in Wirklichkeit in Umfang und Stärke höchst variabel, und die Vererbung spielt dabei durchaus eine Rolle. Kürzlich ergab eine Studie, dass die Unterschiede in der Anzahl von Menschen, mit der eine Person Kontakt oder soziale Beziehungen unterhält, sowie die Unterschiede in der Transitivität – der Wahrscheinlichkeit, dass zwei beliebige Kontakte einer Person auch mit den Kontakten der anderen in Verbindung stehen – beide etwa zur Hälfte erblich bedingt sind. Andererseits ist die Anzahl anderer Gruppenmitglieder, die Einzelne als ihre Freunde betrachten, genetisch nicht bedingt, zumindest nicht innerhalb der üblichen statistischen Grenzen der erhobenen Messwerte.[ 55 ]
Unter Berücksichtigung der heute verfügbaren genetischen und archäologischen Befunde, die schnell zunehmen, lässt sich meines Erachtens die langfristige Entwicklung bis zur Auswanderung und der Zeit danach etwa
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