Die spaete Ernte des Henry Cage
zum Opfer geworden, und wie alle Opfer rechnete er damit, erneut Opfer zu werden. Wenn er durch die Straßen ging, bekam er es häufiger mit der Angst, und wenn er sich großen Menschenmengen gegenübersah, steckte er die Uhr in die Tasche. Einmal hatte er gar eine ungewollte Busfahrt gemacht, nur um einem kahl geschorenen Burschen aus dem Weg zu gehen, der ihm auf dem Bürgersteig entgegenkam.
Vielleicht, so dachte er, sollte er Nessas Einladung annehmen und nach Florida flüchten; das aber bedeutete, Nessa wieder in sein Leben zu lassen, und dies wiederumerforderte Großmut, zu dem er sich noch nicht in der Lage fühlte.
Es war nicht schwer gewesen, Nessa zu verfolgen. Sie hatte Material für eine Fernsehdokumentation über das amerikanische Weltraumprogramm gesammelt und arbeitete am Vormittag meist in ihrem Arbeitszimmer. Nach dem Mittagessen verließ sie das Haus und kehrte gegen sechs Uhr zurück. Gingen sie abends nicht aus, arbeitete sie und nutzte die Vorteile der Zeitverschiebung, um zu dort üblichen Bürozeiten mit Amerika zu telefonieren. Henry fragte sie nie, was sie an den Nachmittagen tat. Ab und an standen Einkaufstüten im Hausflur, oder sie erwähnte den Namen einer Freundin oder eines Films, den sie gesehen hatte. Während er im Büro war, dachte er kaum an sie. Sie waren kein Paar, das sich jeden Tag anrief.
Was hatte ihn dazu gebracht, ihr zu folgen? Es war so einfach gewesen, ein dummer Zufall. Henry saß auf dem Heimweg von einem Treffen mit einem Kunden im Taxi und sah sie die Walton Street entlanggehen. Der Verkehr war ohnehin fast zum Erliegen gekommen, Henry hatte schon eine Hand an der Fensterkurbel, wollte das Fenster öffnen und ihr zurufen, doch dann sah er sie lächeln und geradeaus nach vorne schauen, sie ging einfach weiter und lächelte.
An jenem Nachmittag, dem ersten Nachmittag, an dem er ihr folgte, ging sie von zu Hause zu einem Wohnblock in Edwardianischem Stil, der auf ein paar Sportfelder hinausging, südlich der King’s Road. Nessa betrateinen der Eingänge mit der Kennzeichnung WOHNUNGEN 36 – 49. Henry wartete einige Augenblicke und ging dann zur Tür, in der Hoffnung, einen bekannten Namen an einer Klingel zu finden – Gilly Webb, Amanda Norton oder die Mammets, Nachmittagsfreunde, von denen sie manchmal sprach. Der Eingang hätte jedoch kaum diskreter sein können. Keine Klingeln, keine Namensschilder. Durch die innere Glastür konnte er einen Portier erkennen, der sich größte Mühe gab, einen Stapel Zeitschriften auf einem polierten Tisch auszurichten. Henry zog sich zu einer Bank am Rande der Sportfelder zurück, von wo aus er die Eingangstür gut beobachten konnte.
Zwei Stunden später kam Nessa wieder heraus. Henry wartete eine Viertelstunde und ging dann nach Hause. Nessa war bereits da. Unterwegs hatte sie es geschafft, sich eine Einkaufstasche von GAP zu besorgen.
»Ich habe nach etwas für Amandas Baby gesucht. Es dauert ewig, etwas Geeignetes zu finden.«
Am nächsten Nachmittag folgte er ihr wieder. Nessa war auf Autopilot; derselbe gemächliche Gang zum selben Ziel. Diesmal hatte Henry ein Buch dabei, aber er hatte erst ein paar Seiten gelesen, als sie aus dem Haus kam. Sie war nicht allein. Der Mann war groß, sein dunkles Haar kurz geschnitten, fast rasiert, und nach dem Schwung seiner Schritte zu urteilen, war er recht jung. Henry folgte ihnen bis zur King’s Road. Der Mann nahm Nessa am Arm und führte sie durch den Strom der Passanten. Sie sprachen miteinander, und der Mann neigteden Kopf zu ihr, um sie besser zu verstehen. Henry war von dieser Vertraulichkeit am Boden zerstört.
Noch bevor die beiden dort ankamen, wusste Henry, dass sie ins Chelsea Cinema gingen. Das Kino hatte nur eine Leinwand, deshalb konnte er auf der Tafel draußen ablesen, dass der Film um achtzehn Uhr zehn zu Ende war. Um halb sieben hörte er Nessas Schlüssel in der Tür.
»Ich dachte, wir gehen mal ins Kino«, sagte er.
»Ach.«
»Im Chelsea läuft ein neuer Woody Allen – wir könnten noch die Vorstellung um Viertel vor sieben erwischen. Hast du Lust?«
»Warum nicht?«, antwortete Nessa, die ihre Jacke schon halb ausgezogen hatte und sie sich nun wieder langsam anzog.
Henry folgte ihr nicht wieder. Es gab nichts Neues mehr zu entdecken. Das Ganze war nur eine Frage der Zeit. Eine Woche später, als er gerade ins Büro gehen wollte, öffnete Nessa die Tür zu ihrem Arbeitszimmer.
»Können wir noch zusammen einen Kaffee trinken, bevor du gehst?«
Sie
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